Phantomschmerz verfeindeter Völker

Sachbuch | Yfaat Weiss: Verdrängte Nachbarn

Über »Israel« und »die Juden« hat hierzulande anscheinend jeder eine Meinung und verkündet sie neuerdings auch immer dröhnender. Inzwischen grassiert eine fatale Paarung von Meinungsstärke und Kenntnisschwäche. Dabei gibt es Informationen zuhauf über die komplexen Hintergründe dessen, was plakativ »Nahostkonflikt« heißt. Zum Beispiel das neue Buch der jüdisch-israelischen Historikerin Yfaat Weiss, Verdrängte Nachbarn: Wadi Salib – Haifas enteignete Erinnerung. Von PIEKE BIERMANN

Verdraengte NachbarnDass Geschichte meistens zuerst von den Siegern geschrieben wird, hat einen gerade für die Sieger ungemütlichen Aspekt: die Halbwertzeit ihrer historischen Wahrheit. Die beträgt heute nicht mehr Jahrhunderte, sondern höchstens Generationen, im Digizeitalter nicht mal mehr soviel. Und oft noch wichtiger als das, was Sieger schreiben (lassen), ist das Nicht-Geschriebene: Ereignisse, die in Ruinen begraben bleiben oder sogar der inszenierten Amnesie anheimfallen. Denn alles Verdrängte wirkt nach und neigt zu katastrophalen Explosionen. Das kollektive Gedächtnis der Verlierer ist ein schwarzes Loch. Dagegen wirkt selbst das world-wide web vergesslich.

Es gibt einen Ort in Israel, an dem man das studieren kann: Wadi Salib, ein Ruinenareal im unteren östlichen Haifa. Dort bricht plötzlich Anfang Juli 1959 ein Aufstand los. Im Nu werden aus einer alkoholreichen Kneipenstreiterei mit ein paar kaputten Flaschen Straßenschlachten. Ein Polizist hat auf den Kneipenrandalierer geschossen. Sofort strömen Einwohner zusammen, Fensterscheiben werden eingeworfen, Autos angezündet, die Büros der Gewerkschaft Histadrut und der Partei Mapai angegriffen, Polizisten mit Steinen beschmissen. Aber es ist kein jüdisch-arabischer Konflikt, sondern ein innerjüdischer, der der jungen Nation zum ersten Mal drastisch klarmacht, dass sie voller massiver innerer Spannungen steckt. Die Aufständischen sind aus Marokko geflüchtete arme, eher ungebildete Mizrahim. Ihre Wut ist lange aufgestaut und richtet sich gegen die Ashkenasim, die überall im Staat das Sagen haben und keineswegs frei von Vorurteilen und Klassendünkel sind.

Erschütterung des Augenblicks

Unter diesem bis heute weitgehend verdrängten historischen Ereignis liegt aber noch ein zweites, gewaltsameres: die Enteignung und Vertreibung der arabischen Einwohner der vielbesungenen »gemischten Stadt«. Am 21. April 1948 mittags beginnt die provisorische jüdische Untergrundarmee Hagana mit der Eroberung der arabischen Viertel von Haifa, am 22. April beginnt der Exodus der Araber. Von den dreißig- bis sechzigtausend Muslimen und Christen – die Zahlen schwanken – sind bald nur noch drei- bis sechstausend da, nicht zuletzt deshalb, weil die britische Mandatsverwaltung kurz in Fluchthilfe-Aktionismus verfällt. Manche in der ebenfalls noch provisorischen jüdischen Verwaltung Jischuw und vor allem Lokalpolitiker sind bestürzt, spüren, dass dieser Exodus eine moralische Katastrophe werden wird, und rufen die Araber zur Rückkehr auf.

Auch Golda Meir, die Haifa sofort besucht, fühlt sich beim Anblick der wartenden Flüchtlinge und der leeren Wohnungen, in denen noch Kaffee und Brot auf dem Tisch stehen, an Pogrome und an die Schoa erinnert: »Ich konnte nicht anders als mir vor Augen zu führen, dass das sicher das Bild in vielen jüdischen Städtchen gewesen ist.« Sie weint gemeinsam mit einer alten Araberin, die gerade mit ein paar Bündeln ein entvölkertes Haus verlässt. Aber solche Gefühle halten nicht lange vor. »Es war die Erschütterung des Augenblicks«, schreibt Yfaat Weiss. »Noch bevor die Briten das Land verlassen hatten, zog die jüdische Führung ihren Appell an die Araber zurück.« Haifa wird »hebraisiert«, Wadi Salib zur neuen Heimat für marokkanische Flüchtlinge umfunktioniert.

Bildhaft konkret und detailreich

Verdrängte Nachbarn ist eine ungemein lebendige Studie über einen Ort, an dem der Phantomschmerz zweier verfeindeter Völker sitzt. Yfaat Weiss gehört zur neuen Generation jüdisch-israelischer Historiker. Wie eine Archäologin, in narrativen Spiralbohrungen, gräbt sie durch die Schichten, kreist um einen innerjüdischen Konflikt und kratzt die verdrängte ethnische Säuberung darunter frei. Sie tut das mit einem unbeirrbaren Gerechtigkeitssinn und scheut auch nicht das arabische Wort dafür, nakba Haifa. Ihr Buch kommt ohne Bilder aus, und es braucht auch keine. Yfaat Weiss erzählt so bildhaft konkret und detailreich, dass die folgenschwere Wahrheit, die Uri Avnery gleich 1959 als erster gespürt und öffentlich gemacht hatte, sinnlich erfahrbar wird: Der interne und der externe Konflikt sind zutiefst ineinander verschränkt und konstitutiv für die Identität beider Völker.

Die moralische Strahlkraft von Geschichtsschreibung bemisst sich an der Offenheit gegenüber den dunklen, inhumanen Seiten von Siegen wie von Niederlagen. Yfaat Weiss klopft ihre ergreifenden Fundstücke immer auch auf kulturelle, urbane, soziale Maserungen ab und zeigt, wie haarfein und wie verknotet die Fäden in dem ängstlich beäugten Spannungsfeld namens »Nahostkonflikt« sind und wie prekär die Zuordnung von Siegen und Niederlagen.

Eine erste Version dieser Rezension wurde am 22. März 2012 bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht.

| PIEKE BIERMANN

Titelangaben
Yfaat Weiss: Verdrängte Nachbarn. Wadi Salib – Haifas enteignete Erinnerung
Aus dem Hebräischen von Barbara Linner
Hamburg: Hamburger Edition 2012
286 Seiten, 25 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Bass im Dialog mit dem Orchester

Nächster Artikel

Leerlaufkompetenz

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Von Gläubigen, Ungläubigen und Leichtgläubigen

Gesellschaft | Linda Dorigo/ Andrea Milluzzi: Bedrohtes Refugium. Christliche Minderheiten im Nahen Osten Kurz vor Kriegsausbruch 1991 trafen sich die Oberhäupter der im Irak vertretenen christlichen Konfessionen in Bagdad und appellierten eindringlich an den Westen, den Frieden zu wahren. Griechisch-Orthodoxe sah man da, Melkiten, Assyrer, Chaldäer, Nestorianer, Armenier, Jakobiten, Katholiken und Protestanten, in ihren bunten Trachten. Sie alle trieb nicht die Liebe zum Regime Saddam Husseins, sondern die richtige Einschätzung, dass ein Krieg die Balance in der Region zerstören würde – zum Schaden besonders der Christen. Bedrohtes Refugium von Linda Dorigo und Andrea Milluzzi will eine Art Bestandsaufnahme christlichen Lebens

Raus aus dem Eingesperrtsein, nur raus

Kulturbuch | Jochen Schimmang: Grenzen, Ränder, Niemandsländer Schwierig, über Literatur zu schreiben. Oder vielleicht eher: Mir fällt es schwer. Die Maßstäbe sind im Übergang, Trivialliteratur ist seit Urzeiten abgeschafft. Wo man nur hinsieht, wird gecrossovert, der etablierte Betrieb befasst sich mit eigenen Sorgen. Die jüngste deutsche Nobelpreisträgerin äußert sich zur Ukraine, es müllert, dass noch die letzten Grenzpfähle im Sumpf versickern. Von WOLF SENFF

Die Erfindung der Sehnsucht

Sachbuch | Florian Illies: Zauber der Stille

Er gilt als Inbegriff des romantischen Malers, seine Gemälde haben ikonische Symbolkraft: Caspar David Friedrich. Wer kennt nicht seine ›Kreidefelsen auf Rügen‹, ›Das Eismeer‹ oder die ›Frau am Fenster‹? Im Vorgriff auf seinen 250. Geburtstag, der im kommenden Jahr gleich mit mehreren Sonderausstellungen gefeiert wird, beschwört Florian Illies erneut den ›Zauber der Stille‹ herauf. Von INGEBORG JAISER

Dicht an der Quelle

Gesellschaft | Glenn Greenwald: Die globale Überwachung Mit ›Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen‹ hat Glenn Greenwald das wohl wichtigste Buch zum NSA-Skandal geschrieben. Von JAN FISCHER

Ästhetik der Gehörlosigkeit

Kulturbuch | Rafael Ugarte Chacón: Theater und Taubheit Das Theater ist nicht nur ein Ort der Kritik, sondern auch ein Ort der Herrschaftsproduktion! Das Theater ist nicht nur ein Ort der Reflexion, sondern auch ein Ort der Hierarchierepräsentation! Ergo werden kontinuierlich diverse soziokulturelle Gruppen durch die Darstellungsformen exkludiert. Der Theaterwissenschaftler Rafael Ugarte Chacón versucht deswegen in seiner Dissertation für die Gruppe der Gehörlosen auszuloten, inwiefern sie vom Theaterbetrieb ausgeschlossen werden und mit welchen theatralen Formen und Methoden man ihnen Zugang gewähren kann. Sein normatives Konzept heißt ›Aesthetics of Access‹. PHILIP J. DINGELDEY hat Ugarte Chacóns Monographie ›Theater und Taubheit. Ästhetiken