Kunst und Liebe, Liebeskunst – und die Liebe in der Kunst

Comic | Edmond Baudoin: Der Nabel der Welt

Sein und Schein der Geschlechter und ihrer leidenschaftlichen Debatten: Autorenzeichner Baudoin inszeniert mit Der Nabel der Welt ein philosophisches Traktat in expressiven Bildern. Von CHRISTIAN NEUBERT
Nabel der Welt
Während einer Zeichenpause steht der alte Meister seinem jungem Aktmodell Rede und Antwort. Ungezwungen reden sie über Gott und die Welt. Und über sein (Liebes-)Leben. Parallel dazu erzählt er, sich stets auf einen – auf d e n – größeren Zusammenhang beziehend, seine Version der Kluft und dem besonderen Verhältnis zwischen Mann und Frau: »Kleine Mädchen wissen, dass sie mit ihrem Bauch die Welt am Laufen halten. Diese Gewissheit macht sie fröhlich. Kleine jungen wissen auch etwas. Aber im Negativ. Unbewusst ist ihnen klar, dass sie, egal, was sie machen, kein Leben schaffen können. Deshalb veranstalten sie ständig Schlachten und nutzlose Eroberungen. Wir müssen etwas kompensieren. Und daraus entsteht die Geschichte.«

Der Nabel der Welt erzählt die Geschichte eines Malers, der eine Geschichte erzählt. Edmond Baudoin inszeniert ein künstlerisch verkopftes und gleichzeitig flirrend-erotisches Zwiegespräch als philosophisches Traktat. In gerne mal zynischen, aber stets poetischen Worten entlockt er dem heißen Eisen einer im Atelier geführten Geschlechterdebatte schöne Momente voller Wahrheit, Klarheit und Verwirrung. Während der Unterhaltung scheint das schöne Aktmodell die dezidiert männliche Sichtweise des deutlich älteren Malers als dessen subjektive Deutung relativieren zu wollen. Und auch er selbst scheint sich die Bedingtheit seiner Thesen eingestehen zu müssen. Doch ist er es selbst, der seine eigenen Männer- und Frauenbilder infrage stellt? Oder ist er als Protagonist einer Geschichte, die nicht die seine ist, ohnehin nur die Projektion der Gedanken eines Dritten?

Schwerwiegend, aber ohne Schwere

Was hier gedankengeschwängert und womöglich schwer konsumierbar klingt, ist bei allem Tiefgang bemerkenswert leichtfüßig erzählt. Die Gedankenspiele des Comics möchten universellen Anspruch erheben und sind entsprechend ausschweifend. Dabei sind sie stets nachvollziehbar oder gar naheliegend. Sie sind auf eine Weise einleuchtend, bei der man meint, man sähe eigene Ideen von Baudoin herrlich treffend ausformuliert und in ansprechenden Bildern umgesetzt. Der Autorenzeichner erweist sich als guter Reiseführer durch männliche und weibliche Befindlichkeiten und gibt mit Der Nabel der Welt eine Route vor, die man flott durchschreitet und deren Verlauf man gerne folgt.

Baudoins mit grobem Strich geführten Zeichnungen ergeben, kombiniert mit der virtuosen farblichen Gestaltung, ein kunstvolles Gesamtbild. Der Franzose beherrscht es, unterschiedliche Kolorierungsmethoden auf eine Weise gegenüberzustellen, die sich nicht im Weg steht, sondern – im Gegenteil – prächtig ergänzt. Kräftige Farbtöne treffen in dem schönen Band auf Bleistiftschraffuren, pastellige Aquarellfarben schmiegen sich an Buntstiftzeichnungen. Zwischendurch, in gedanklichen Rückblicken, findet auch Fotomaterial Verwendung in den Bildkompositionen. Der Einsatz dieses Stilmittels ist ebenso wenig willkürlich wie die anderen angewandten Techniken. Er ist in dem Sinne zweckdienlich, als dass er verdeutlicht, wie wenig habhaft man dem Wesen (des Nabels) der Welt werden kann. Baudoin lässt einen die Gegenwart nur abstrahiert erkennen, während man sich seiner Erinnerungen schon mehr gewiss sein kann – die auf den Fotos festgehaltenen Ausschnitte, die einer Abbildung der Wirklichkeit deutlich näher kommen, belegen dies.

Mehr davon

Mit Der Nabel der Welt hat der Verlag Schreiber & Leser ein wunderbares Kleinod europäischer Comic-Kunst nun dem deutschsprachigen Raum zugänglich gemacht. Man kann nur hoffen, dass hierzulande auch die anderen Bände des Franzosen, der 1992 in Angoulême als Preisträger hervorging und über die Comic-Szene hinaus für seine Illustrationen der Fred Vargas-Krimis bekannt ist, nach und nach herausgebracht werden.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Edmond Baudoin: Der Nabel der Welt (L´Arleri)
Aus dem Französischen von Resel Rebiersch.
Hamburg: Schreiber & Leser 2013
104 Seiten. 22,80 Euro

Reinschauen
Homepage des Künstlers
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Gemeinsame Geschichte

Nächster Artikel

Dope on the Road to Nowhere: An Interview with Boozoo Bajou.

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Fantasy-Polit-Krimis

Comic | Elfen 1: Der Kristall der Blauelfen / Elric 1: Der Rubinthron Was ist nur aus den guten, alten Elfen geworden? Der Splitter Verlag beglückt die Fans großer Fantasyepen mit den Neustarts zweier breit angelegter Serien, in denen hochgewachsene, spitzohrige Krieger im Vordergrund stehen. Sowohl in Elfen als auch bei Elric wird gelogen und intrigiert, gemeuchelt und gemetzelt, werden finstere Zauber beschworen. Gutmenschentum hat BORIS KUNZ bei diesen Elfen vergebens gesucht.

Easy Going

Comic | Tommi Musturi: Sozusagen Samuel Vor sieben Jahren erschien bei ›Reprodukt‹ der Comic ›Unterwegs mit Samuel‹. Nun kommt der Folgeband ›Sozusagen Samuel‹, der nahtlos an seinen Vorgänger anknüpft. In abstrakter Form erzählt er ohne Worte vom nackten Leben in knalligen Farben. Von CHRISTIAN NEUBERT

Besonderer Comic, tosender Applaus

Comic | Gipi: Besondere Momente mit falschem Applaus

Humor ist, wenn man trotzdem lacht, weiß Silvano Landi – ein Stand-Up-Comedian, dessen Mutter im Sterben liegt. Von ihm erzählt der Comic ›Besondere Momente mit falschem Applaus‹ des italienischen Autorenzeichners Gipi, der in deutscher Übersetzung beim Berliner avant-verlag erschien – vielschichtig, ergreifend, mit ständig wechselnder Erzählebene. Von CHRISTIAN NEUBERT

Auf den Spuren der Rattenbande

Comic | Die Ratten im Mäuseberg

Nach einem 1955 erstmals erschienenen Krimi des Schriftstellers Léo Malet haben der Zeichner François Ravard und der Szenarist Emmanuel Moynot den Comic ›Die Ratten im Mäuseberg‹ aus der Reihe um den Privatdetektiv Nestor Burma als Comic umgesetzt. Heraus kommt der neunte Fall des Schnüfflers Burma, der nun bei Schreiber & Leser in deutscher Übersetzung vorliegt – ein kurzweiliger und unterhaltsamer Band mit überaus überraschendem Ende. Von FLORIAN BIRNMEYER

Anziehend schräg

Comic | François Schuiten (Zeichnungen) / Benoît Peeters (Text): Das schräge Mädchen Mit ›Das schräge Mädchen‹ ist eine weitere faszinierende, wunderbar aussehende Episode aus Schuitens und Peeters‘ Comicreihe ›Die geheimnisvollen Städte‹ in deutscher Sprache erhältlich. CHRISTIAN NEUBERT hat sich den Band vorgenommen.