Roman | Christopher Ecker: Fahlmann
Wer sich an Christopher Eckers Roman Fahlmann wagt, muss reichlich Zeit einplanen. Zeit, das Universum und die Welt auf verschiedenen Ebenen zu erkunden, Zeit für Afrika, Zeit für ein Beerdigungsinstitut, für Paris – viel Zeit für Paris. VIOLA STOCKER unternahm einen Versuch.
Christopher Ecker, gebürtiger Saarbrückener, Autor, Übersetzer, Kritiker und Lehrer legt mit Fahlmann seinen dritten Roman vor. Er geht damit ein großes Wagnis ein. In unserer Generation der schnellen Schnitte und Blockbuster mutet er seinen Lesern ein tausendseitiges Epos zu, dessen Bedeutung sich nicht so einfach erschließen lassen will und dessen Inhalt mehr als zwei Sätze zur Zusammenfassung benötigt. Wer sich auf diese moderne Odyssee einlässt, den erwarten lyrische Ausflüge genauso wie Komödien, eine Liebesgeschichte und ein Abenteuerroman. Und walknastranzische Abstecher ins Universum.
Am Anfang steht der Tod
Eckers Roman beginnt mit der einzigen Gewissheit, die das Leben uns garantieren kann: dem Tod. Im ersten Kapitel wird beschrieben wie Georg Fahlmann, Student, Autor, Ehemann und Mitarbeiter im familiengeführten Bestattungsunternehmen, seinen Vater verliert. Dieses prägnante Leseerlebnis macht mit einem Satz bestimmte Dinge klar: hier wird schwere Kost zugemutet, selbst der Tod wird zu einer Farce seiner selbst. Nichts ist Ecker so egal wie ein stringenter Handlungszusammenhang oder Verlässlichkeit.
Anfangs bekommt man den Eindruck, der Protagonist und Ich – Erzähler Georg Fahlmann (und ist er das wirklich?) habe sein Leben zumindest halbwegs im Griff. Er studiert Germanistik, jobbt im Bestattungsunternehmen seines Onkels, ist mit einer bildhübschen Frau verheiratet, hat mir ihr einen Sohn und ist gesegnet mit einem nachsichtigen Professor, einem intelligenten Großvater und einer großen Portion literarischen Talents. Die restlichen tausend Seiten verbringt Ecker damit, alles zu demontieren, was er vor seinen Lesern gerade aufgebaut hat.
Rätselhaftes geschieht am Tendaguru
Denn mittendrin verabschiedet sich der Fahlmann aus der Jetzt-Zeit und springt nach Deutsch – Ostafrika im Jahre 1910, wo Carl Richard Bahlow, ein Entomologe, bei einer paläontologischen Expedition einen verschwundenen Missionar aufspüren soll. Was wie ein Forschungsbericht beginnt, mündet in abstruse Vermutungen über eine unterirdische Stadt, Stadtpläne von Paris und unerfüllten sexuelle Gelüsten und Lastern, die nicht nur Bahlow verfolgen, sondern offensichtlich auch Georg Fahlmann, den Autor dieses Kapitels.
Bald stellt man sich die Frage, ob es hier überhaupt Fahlmann ist, der erzählt, der einen Abenteuerroman schreiben möchte und ihn doch nicht vollenden kann, dessen literarisches Talent er selbst vielleicht am meisten überschätzt oder nicht vielleicht doch eine dritte Instanz. Ecker führt ein umfassendes Personenregister ein und man ist bald froh, Kai U. Jürgens‘ Erläuterungen bei Hand haben zu können. Spätestens zur Hälfte des Romans stellt sich definitiv auch die Sinnfrage: was geschieht hier eigentlich und warum?
Alle Wege führen nach Paris
Ecker beschreibt auf kunstvollem Weg Flucht und Scheitern eines Autors, dessen Roman sich ihm genauso entzieht, wie der Fahlmann sich dem konventionellen Leser entziehen muss. Georg Fahlmann scheitert: Eifersucht und unerfülltes sexuelles Begehren zerstören seine Ehe, Probleme seines Sohnes ignoriert er, das einzige Buch, das er veröffentlichen darf, ist verballhornte, im Suff entstandene Nonsense-Lyrik, die er nicht einmal allein produziert hatte. Nach der Enthüllung halbkrimineller Machenschaften im Familienbetrieb scheitert er auch hier, längst ist dem Leser klar, dass er weder Magisterarbeit noch Promotion je vollenden wird.
Als Fahlmann überstürzt alles hinter sich lässt und nach Paris flieht, um seinen Abenteuerroman zu beenden, holt ihn alles ein: der großzügige Mäzen Dr. Birch wandelt sich zum undurchsichtigen, allmächtigen Wesen, das als Über-Ich zusammen mit Freund und Schriftsteller – Konkurrent Winkler Fahlmann verfolgt und kontrolliert.
Im heruntergekommenen Hotel versammeln sich mit der Zeit sämtliche Gestalten aus Fahlmanns Roman, der Stadtplan von Paris wird zur Weltkarte und Fahlmann unternimmt hier die Expeditionen von Bahlow, pseudobiographische Abschnitte aus Carl von Linnés Leben eröffnen einen weiteren Handlungsstrang ins Unbewusste und die Geschwindigkeit, mit der die Zimmer im Hotel puppenhausgleich rotieren, lässt Protagonisten und Leser gleichermaßen außer Atem geraten.
Erst aus dem Elend erwächst die Größe
Es obliegt Fahlmann selbst, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen. Zu persönlicher Größe gelangt er erst, als er beginnt, sein eigenes Tun und Handeln schonungslos ehrlich zu reflektieren und niederzuschreiben. Er begreift, dass er erst jetzt zum Autor reifen kann, als ihm erkennt wird, wie viel er verloren hat. Mit dem zunehmenden Bewusstsein, sein eigenes Leben konstituieren zu müssen, schafft Fahlmann einen individuellen Kosmos, der als solcher trotzdem Allgemeingültigkeit beanspruchen kann.
Am Ende ist es sein Großvater, der ihn in einer geisterhaften Erscheinung aus seinem Pariser Exil befreit und – so vermutet man, zurück in die Normalität holen will. Ob das gelingt und möglich ist, bleibt ungesagt, doch ist es für den Ausgang des Romans auch von nachrangiger Bedeutung. Ecker schreibt humorvoll, ironisch, bisweilen derb, manchmal melancholisch, zuweilen dramatisch. Immer schreibt er vor allem gut. Er erzählt so fesselnd, dass es gelingt, trotz des großen Umfangs des Romans und trotz der multiplen Handlungsstränge, bei der Sache zu bleiben und sich im fahlmännischen Universum mal treiben zu lassen, mal Kurven zu schlagen, mal unterzutauchen und zurück zu schwimmen, nie aber verloren zu gehen.
| VIOLA STOCKER
Titelangaben
Christopher Ecker: Fahlmann
Kai U. Jürgens: Liebeserklärung an eine Zielscheibe
Materialien zu Christopher Eckers Roman Fahlmann
Halle: Mitteldeutscher Verlag 2012
1025 Seiten. 39,95 Euro