/

Unverhofftes Wunder

Jugendbuch | Karin Kaçi: Irgendwann in Istanbul

In Zeiten, in denen hitzig über doppelte Staatsbürgerschaft, Migrationshintergrund und die Frage gestritten wird, wer in Europa wann und für wen die Schlagbäume öffnen oder herunterlassen soll, kommt ein Jugendroman daher, das Cover viel zu rosarot und mit viel zu vielen Herzchen, und führt die ganze Problematik zu denen zurück, die sie angeht. Gelesen von MAGALI HEISSLER.
istnabulWie fühlt es sich an, wenn man jung ist und unterschiedliche Nationalitäten in Einklang bringen soll, wird hier ganz offen gefragt. Und ebenso offen geantwortet. Dieses unverhoffte Wunder vollbringt Karin Kaçi mit ihrem Roman Irgendwann in Istanbul.
 
Ani, Studentin, Anfang zwanzig, fliegt nach Istanbul. Schon am Flughafen geht es chaotisch und recht lustig zu, ihre Mutter hat es gleich gesagt. Außerdem leidet Ani an Flugangst. Gut, dass sie Kilian trifft, den jungen Fotografen, der so viel redet, dass die Angst im Zaum gehalten werden kann.
Sie reist nicht zum ersten Mal nach Istanbul, trotzdem trifft die riesige Stadt sie mit Wucht. Daran ist nicht nur die Sommerhitze schuld. Ani ist nicht zum Vergnügen unterwegs. Sie will Fotos machen, allerdings nicht vom neuen Istanbul und ebenso wenig von den Stätten, die die Touristen anziehen.
Ani sucht ein anderes Istanbul, eines, das es vor vielen Jahren einmal gegeben hat. Eines, das Teil ihrer Familiengeschichte ist. Zunächst aber findet sie es nicht. Dafür trifft sie Batu. Oder hat Istanbul ihr Batu geschickt?

Bald fragt sich Ani, was eigentlich zählt, die Gegenwart, die Vergangenheit, ihre Familiengeschichte, die nicht nur deutsch und türkisch ist, sondern vor allem armenisch. Oder die Liebe? Nur zu wem?
Wem gehört ihre Loyalität? Und vor allem, wer ist sie, Ani, wirklich?
 
Die Suche nach den Wurzeln
 
Kaçis Geschichte ist die Geschichte einer Reise. Sie führt die Ich-Erzählerin Ani und mit ihr die Leserin nicht nur in eine fremde Großstadt, sondern in eine Familie, deren Verzweigungen und innere Verhältnisse ebenso undurchschaubar, verwinkelt und voller Überraschungen sind, wie die Straßen, Gassen und Gässchen der Stadt. Die größte Überraschung aber ist Ani, die ihre Geheimnisse gut hütet.

Ihre Herkunft, armenisch-türkisch-deutsch hat sie aufmerksam gemacht, vorsichtig, bisweilen misstrauisch, aber zugleich mutig und stark. Mut und Stärke braucht sie auch, denn die Vergangenheit ist belastet und schmerzlich. Das gilt nicht nur für die Geschichte der Armenier, sondern auch für Anis eigene unmittelbare Familiengeschichte. Ihr muss sie sich stellen, um herauszufinden, wer sie ist und wo sie einen Platz finden kann. Die Suche nach den Wurzeln schleudert sie zunächst aus ihrer Gegenwart heraus, sie wird »Touristin im verschwundenen Leben meiner Großeltern«, wie sie treffend feststellt. Es braucht Batu, den Deutsch-Türken-Türken-Deutschen, aber auch Kilian und die ganze armenische Verwandtschaft, um Anis Gegenwart zurechtzurücken.

Kaçi hat einen wachen Sinn für die Bedeutung von der Vergangenheit und von den Geschichten, die daraus weiterwirken. Nostalgie findet man keine in diesem Buch. Bei aller Liebe zum Gestern nimmt das Heute den vorderen Platz ein. Anders führen die Wurzeln nicht ins Morgen. Das macht die Autorin klar und sie findet scheinbar mühelos trotz des heiklen Themas die geeigneten Worte dafür.
 
Istanbul, mon amour
 
Beworben wird das Buch als Liebesroman, die Geschichte von Ani und einem jungen Mann. Das wird viele Leserinnen in die Irre führen, denn eine geradlinige Liebes-Sommer-Geschichte ist Kaçis Buch sicher nicht. Trotzdem ist das Buch eine Geschichte von Liebe, vieler Lieben. Darunter eine große, nämlich die von Ani zu ihrer Großmutter.
Und schließlich die ganz große, die Liebe zu Istanbul. Istanbul, mon amour, könnte der Untertitel des Buchs lauten. Tatsächlich ist die Stadt die eigentliche Hauptfigur. Sie lebt in all ihrer Unermesslichkeit, in Schönheit, Wahnsinn, Tumult, ihrer Vergangenheit, dem Hier und Jetzt, zwischen Land und Meer auf fast jeder Seite dieses Romans. Man durchstreift sie mit Ani, erfährt sie Straßenzug für Straßenzug in den farbigen, lebendigen Beschreibungen Kaçis, und erfasst sie doch nicht. Istanbul ist Monster und Heimat, ein ewiges Geheimnis, das sogar Wunder tun kann. Oder die Hölle aufbrechen lassen.
Hier gerät der Roman dann auch etwas zu üppig und ausführlich, hier brauchen Leserinnen ein wenig Geduld. Die Geschichte aber verträgt die Längen, Kaçi spinnt die Fäden geschickt.

Liebesgeschichte, Familiengeschichte, ein Sommerroman und ein politisches Buch, das ganz deutlich macht, dass die Zukunft den klaren Blick auf die Vergangenheit braucht. Egal, wie viele verschiedene Teile fremder Kulturen sich in einem Individuum vereinen.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Karin Kaçi: Irgendwann in Istanbul
Stuttgart/Wien: Thienemann (Planet Girl) 2013
265 Seiten, 12,95 Euro
Jugendroman ab 15 Jahren

Reinschauen
Leseprobe
Interview mit der Autorin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mt. Wolf Live at Heaven 12th November 2013.

Nächster Artikel

Erzählen im freien Fall

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

»Ohne Tod hat das Leben keinen Sinn«

Jugendbuch | Ross Welford: Der 1000-jährige Junge Unsterblichkeit ist ein uralter Menschheitstraum. Ob es wirklich so erstrebenswert ist, ewig zu leben, fragt Ross Welford in einer packenden Geschichte. Von ANDREA WANNER

Das schöne Märchen vom armen Schiffbrüchigen

Jugendbuch | Daniel Defoe: Robinson Crusoe Robinson Crusoe gehört sicher zu den bekanntesten Romanfiguren. Von seinem ersten Auftritt in der Öffentlichkeit vor 298 Jahren bis heute ist seine Attraktivität ungebrochen. Sein erfundener Lebensbericht ist aber auch ein zu schönes Märchen! Von MAGALI HEIẞLER

Ein Rückblick

Jugendbuch | Daniel Handler: 43 Gründe, warum es aus ist Eigentlich, so sollte man meinen, genügt ein guter Grund, eine Beziehung zu beenden. Die 16jährige Min rekapituliert ihre gescheitere Beziehung zu Ed, dem Star der Basketballmannschaft und findet gleich 43 Gründe, warum es aus ist. Eine besondere Liebesgeschichte findet ANDREA WANNER.

Das Gute siegt immer und überall

Jugendbuch | Louise Galveston: Der (überhaupt gar nicht) allmächtige Todd Wer träumt nicht davon, groß, stark und durchsetzungsfähig zu sein? Immer die richtige Entscheidung treffen und natürlich perfekt anderen helfen, kurz: allmächtig zu sein. Leider gibt es da noch die Realität. Nicht jedoch in diesem Jugendbuch. Hier gibt’s bloß Schmierenkomödie. Von MAGALI HEIẞLER

Blutvergießen

Jugendbuch | Lola Renn: Drei Songs später Eine Familie ist ein eng gestricktes Beziehungsgeflecht. Eng gespannt sind auch die Fäden der Macht, die zwischen den Beteiligten hin- und herlaufen. Was innerhalb der einen Gruppe ein schützender Kokon sein kann, in einer anderen fördernd und wegweisend, kann sich in der dritten als Diktatur auswirken, der die Schwächsten, die Kinder, schutzlos ausgeliefert sind. Solche Fäden können töten. Wer sich lösen will, muss Blut lassen. Lola Renn vergießt in Drei Songs später im wahren Sinn des Worts das Blut ihrer sechzehnjährigen Protagonistin, während diese mit ihren Eltern um ihr Leben kämpft. Von MAGALI