/

Antike Kunst von elektrisierender Wucht

Ausstellung | Nok. Ein Ursprung afrikanischer Skulptur, Frankfurt/Main

Im Frankfurter Liebieghaus faszinieren 2500 Jahre alte Tonfiguren aus Nigeria im Dialog mit zeitgleicher mediterraner Kunst. SABINE MATTHES über eine provokante Ausstellung.

Foto: Goethe Universität Frankfurt
Foto: Goethe Universität Frankfurt
Am 29. März 2006 verdunkelte eine Sonnenfinsternis den Himmel über Zentral-Nigeria. In Janjala wurde ein großer weißer Hahn geschlachtet und mit vier Federn die nächste Ausgrabungsstelle abgesteckt. Die einheimischen Arbeiter, die dem deutschen Archäologenteam der Goethe-Universität Frankfurt um Peter Breunig bei seinen Ausgrabungen halfen, hielten dieses Opfer für angebracht. Denn es gab einen außergewöhnlichen Fund zu feiern: Drei Terrakottateile, die sich zu einer 42 cm hohen weiblichen Stab-Terrakotta zusammenfügten, bis heute die einzig vollständige Nok-Figur.

Der Fundort war zwei Autostunden von dem kleinen Dorf Nok entfernt. In dessen Nähe wurden 1929, als die Briten in ihrer damaligen Kolonie Nigeria nach Zinn schürften, die ersten Bruchstücke von Tonfiguren gefunden. Der britische Archäologe Bernard Fagg erkannte damals deren Bedeutung und organisierte ihre Bergung. Aus einem Areal, das der Größe Portugals entspricht, trug er bis 1970 eine Sammlung aus etwa 150 Fragmenten von Skulpturen zusammen, erkannte deren stilistische Einheitlichkeit und gab der Kultur den Namen Nok. Nahe der heutigen Hauptstadt Abuja machte Fagg eine weitere wichtige Entdeckung. Er grub einen Fundplatz mit Eisenverhüttungsöfen aus, bei denen Nok-Skulpturen lagen. Konnten die Funde aus dem ersten Jahrtausend v.Chr. stammen? Damit wäre die Nok-Kultur nicht nur die früheste Skulpturen-Tradition in Afrika südlich der Sahara, sondern hätte auch einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Metallurgie.
Das spektakulär hohe Alter einer so hoch entwickelten Figuralkunst und anspruchsvollen Technologie, die sich in Westafrika eigenständig und abgeschieden von den antiken Kulturzentren des Mittelmeerraums entwickelt haben soll, löste in den 1950er Jahren heftige Diskussionen und einen Sturm der Entrüstung aus. Sollte Karthago entthront werden? Das hatte die Fachwelt Schwarzafrika nicht zugetraut!

In den Schatten gestellt

So ist die faszinierende Ausstellung Nok. Ein Ursprung afrikanischer Skulptur in der Frankfurter Liebieghaus Skulpturensammlung heute immer noch eine Provokation. Zeigt sie doch, dass während im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. Ägypten, Griechenland und Rom erblühten, jenseits der Sahara von 1500 v.Chr. – 0 v.Chr. die Nok-Kultur existierte. Über 100 Skulpturen und Fragmente der Nok, die die Archäologen der Goethe-Universität Frankfurt in den vergangenen acht Jahren an über 200 Grabungsstellen geborgen haben, werden jetzt erstmals, gemeinsam im Dialog mit rund 60 zeitgleichen Werken der altägyptischen und griechisch-römischen Antike, gezeigt. Und stehlen diesen eindeutig die Show. Denn in der pointierten Konfrontation spürt man sofort die überlegene, elektrisierende Wucht künstlerischer Urkraft, die schon Pablo Picasso oder Ernst Ludwig Kirchner in der indigenen Kunst Ozeaniens und Afrikas so unwiderstehlich anzog, dass sie sich gelangweilt von den Klassizismen der Kunstakademien abwandten. Damit illustriert die Ausstellung auch den großen ästhetischen Konflikt der klassischen Moderne, wo die expressive, abstrakte Formenwelt afrikanischer Plastiken über den Realismus der europäischen Antike gesiegt hat.

Aus ihren markanten, ausdrucksstarken, überproportional großen, dreieckigen Nok-Augen mit der ausgestochenen Iris blicken uns die rot-braunen Terrakotten an. Menschen, Tiere und Mischwesen. Wie unheilvolle Propheten aus einer bizarren, archaischen Science Fiction Welt voller Magie und Mutationen. Stolz und prächtig geschmückt, mit extravaganten Frisuren, Narbenverzierungen und eingeklemmten Schlangen unter dem Arm. Aber auch bemitleidenswert und grotesk entstellt durch Krankheit oder anatomische Anomalie; mit Nasenlöchern zwischen den Augen; einem Geschwür an der Backe oder einem auslaufenden Auge, das für die Flussblindheit spricht. Ein Menschenkopf mit Vogelschnabel, ein anderer mit Affengesicht; ein Männerkopf mit kräftigen Fangzähnen und Fellnase, der im gespreizten Hals einer angriffslustigen Kobra steckt.

Die irritierten Seelen

Was sagen uns diese charismatischen Skulpturen und ihre rätselhafte, absichtliche Zerstörung? Die bewusste Deponierung der zerschlagenen Figuren deutet auf eine rituelle Entsorgung hin, um Gefahr abzuwenden, die von ihnen auszugehen drohte, oder um Missbrauch zu vermeiden. Sie könnten als Abbild der Ahnen oder als Sitz ihrer Geister zur Verehrung und Kontaktaufnahme mit ihnen gedient haben. Drücken sie eine Wertschätzung für die Ahnen aus, die als bestimmende Macht, anstelle von Göttern, die spirituelle Welt regierten?
Im Ahnenkult sind Fälle bekannt, bei denen die vom Tod ihres verstorbenen Trägers irritierte Seele in Figuren »eingekörpert« wurde, ehe sie sicher zu den Ahnen ins Totenreich geleitet wurde. Die ostafrikanischen Masai glaubten an das Weiterleben reicher Menschen und Heiler in Gestalt von Schlangen, die sie mit Milch fütterten, wenn sie von ihnen in ihren Hütten besucht wurden. Schlangen und Echsen gehören zu den häufigsten Tieren unter den Nok-Skulpturen. Sie wurden in vielen traditionellen Gemeinschaften Afrikas als Zeugungshelfer oder verwandelte Ahnen verehrt, gefüttert und bildlich dargestellt. Als Ahnentiere sind Schlangen prädestiniert: Sie können ihre Haut abstreifen, was als Zeichen der Unsterblichkeit gilt, sie sind mit der Erde verwurzelt und teilen sich ihr unterirdisches Reich mit den Ahnen.

Die Nok waren wohl Grenzgänger zwischen der Welt der Lebenden und der Toten (Ahnenkult) und der der Tiere und Menschen (Schamanismus). Wie die Werwölfe in unserer eigenen Mythologie konnten sie in ihrer spirituellen Welt als Mischwesen existieren. Schamanen können im Zustand der Trance in übernatürliche Bereiche vordringen, wo sie Kraft erlangen, um beispielsweise Kranke zu heilen. Dabei verwandeln sie sich in ihrer Vorstellung in Tiere, um deren spezielle Fähigkeiten zu nutzen. Die Tier-Mensch-Mischwesen könnten auf solche schamanistischen Rituale hinweisen. Da die Nok-Kultur schriftlos war, bleibt uns nur eine hypothetische Deutung ihrer Skulpturen, als gewissermaßen in Ton eingefrorenes Denken.

In Nigeria müssen die Archäologen des Frankfurter Nok-Projekts im Wettlauf gegen versierte, einheimische Raubgräber graben, auf deren Hilfe sie allerdings angewiesen sind, um überhaupt an Fundstellen zu kommen. Die lokalen Mittelsmänner des internationalen Händlernetzwerkes wollen das lukrative illegale Geschäft nicht aufgeben. Die Plünderungen erfolgen im großen Stil. Sie sind für Nigeria ein bitterer Verlust an kulturellem Erbe und wissenschaftlicher Erkenntnis. Denn sie befriedigen die Märkte für Altertümer in den westlichen und asiatischen Industrieländern. Dieser negative Einfluss des Kunstmarktes ist auch eine Folge der Wertschätzung, die die »art primitive« durch europäische Künstler wie Picasso einst erfahren hatte.

| SABINE MATTHES

Ausstellung
Nok. Ein Ursprung afrikanischer Skulptur
Ausstellung in der Liebieghaus Skulpturensammlung
Frankfurt a. Main
Bis 23.März 2014

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Some damn fine Releases to put a Spring in your Step.

Nächster Artikel

Probleme lösen – kindgerecht

Weitere Artikel der Kategorie »Ausstellung«

Ein Vorläufer der Gender-Debatte?

Kunst | Max-Beckmann-Ausstellung in Hamburg

Dass Männer weibliche Anteile haben können, pfeifen die Spatzen so anhaltend von den Dächern, dass es sich wohl mittlerweile jedem mitgeteilt hat. An einem der virilsten Maler der klassischen Moderne überhaupt, dem großen Max Beckmann, untersucht die Hamburger Kunsthalle mit einer neuen Präsentation jetzt beispielhaft, wie es sich mit der Darstellung der beiden Geschlechter in seinem Werk tatsächlich verhält. Von PETER ENGEL

Kirchner kehrt zurück!

Ausstellung | Kirchner im KirchnerHAUS; Aschaffenburg Er zählt zu den wichtigsten Repräsentanten des Expressionismus und gilt als einer der produktivsten, aber auch schwierigsten Künstler des 20. Jahrhunderts: Der deutsche Maler und Grafiker Ernst Ludwig Kirchner, Gründungsmitglied der Künstlergruppe ›Brücke‹, litt zeit seines Lebens unter der vermeintlich unzureichenden Anerkennung seines Schaffens. Viele seiner Werke, einige davon bislang nie ausgestellt, sind nun in seinem Geburtshaus in Aschaffenburg zu sehen. JÖRG FUCHS über ›Kirchner im KirchnerHAUS‹

Ein Porträtist als Landschafter

Kunst | Thomas Gainsborough – Die moderne Landschaft. Hamburger Kunsthalle Hiesigen Kunstfreunden ist der Name des englischen Malers Thomas Gainsborough (1727-1788) gewöhnlich durchaus vertraut, aber eine Anschauung seines Schaffens konnten sie bisher fast nur in der Heimat des Künstlers selbst gewinnen, speziell bei Londonbesuchen. Das ist derzeit anders, denn die Hamburger Kunsthalle bietet jetzt erstmals in Deutschland eine umfassende Ausstellung mit rund 80 Bildern des Meisters aus dem 18. Jahrhundert, davon zur Hälfte Gemälde und darunter auch zentrale Werke. Von PETER ENGEL

Freiheits-Kämpfer mit der Kamera

Ausstellung | Samuel Fosso (Salzburg)

Samuel Fossos theatralische Selbstportraits sind Performance, Maskerade und Empowerment – fotografische Reinkarnation eines lebendig pulsierenden Stammbaums schwarzer Geschichte in Afrika und der Diaspora. Das Museum der Moderne in Salzburg widmet ihm eine umfassende Ausstellung. Von SABINE MATTHES

Schön visionär

Ausstellung | ›Flow of Forms/Forms of Flow‹ (München) Die Münchner Ausstellung ›Flow of Forms/Forms of Flow‹ zeigt schillernde Designgeschichten aus Afrika. Alafuro Sikoki ist eine der 41 beteiligten KünstlerInnen. SABINE MATTHES sprach mit der Industriedesignerin aus Nigeria über Identität, schwarze Puppen, Göttermode und wie aus Wasserhyazinthen Lampenschirme werden.