Jugendbuch | Beate Dölling: Je mehr ich dir gebe
Unwiederbringlich verlieren, wen man am meisten liebt, schlägt eine tiefe Wunde. Heilung scheint unmöglich. Was aber geschieht, wenn ein anderer auftaucht und einer das Gefühl gibt, der Tote sei dem neuen Paar immer nah? So einen muss man doch lieben. Beate Dölling lässt in ›Je mehr ich dir gebe‹ die siebzehnjährige Julia eine höchst gefährliche Liebschaft eingehen. Von MAGALI HEISSLER
Julia und Jonas haben sich nur wenige Wochen gekannt, ehe Jonas bei einem Motorradunfall ums Leben kam. Für Julia war es die größtmögliche Liebe, die ein Mensch erleben kann. Sich von Jonas zu trennen, erscheint ihr unmöglich. Er ist ihr immer noch nah, sie fühlt ihn überall, denkt an ihn, träumt von ihm, Nacht für Nacht. Ihre Sehnsucht ihn zu erreichen ist zu groß, trauern um den Verlust kommt nicht infrage. Als Kolja auftaucht, Jonas’ bester Freund, scheint zum ersten Mal jemand da zu sein, der sie voll und ganz versteht. Kolja spricht nicht von Trauern, er spricht von Jonas. Er muss ihn gut gekannt haben, er weiß nämlich genauestens über Jonas Bescheid. Und über Julia.
Julias Eltern, ihre beste Freundin Charlotte, Anne, eine neue Bekannte, die Kolja offenbar von früher kennt, reagieren eher abweisend. Julia lässt sich nicht irremachen. Niemand versteht sie, nur Kolja weiß, wie sie fühlt.
Doch die Nähe zu ihm wird über die Wochen eigenartig bedrückend. Trotz Jonas’ Tod gibt es noch Julias Wunsch, an ihrer Ausbildung als Schauspielerin zu arbeiten. Auch Charlotte kann sie doch nicht völlig vernachlässigen? Kolja scheint das nicht zu verstehen. Oder handelt Julia falsch? Verrät sie Jonas, wenn sie an etwas Anderes denkt? Wie steht es überhaupt mit ihnen? Sind sie zwei, drei? Um wen geht es hier eigentlich?
Julia ohne Romeo
Dölling hat ein Thema gewählt, das stark gefühlsbelastet ist, sowohl von der Erzähltradition als auch von den Figuren her. Sie hält sich strikt an die Hauptfigur, die siebzehnjährige Julia. Julias Blick ist von Anfang an eingeschränkt. Zuerst durch ihre ungebändigte Liebe zu Jonas, dann durch die gleichfalls ungebändigte und dadurch ebenso grenzenlos erscheinende Trauer. Das ist logisch und realistisch, ist Julia doch erst siebzehn und wenig erfahren in dem, was ein Menschenleben ausmacht. Alles ist übergroß, Glück ebenso wie Schmerz und Leid entsprechend übermäßig. Julia hat Romeo verloren und muss allein weiterleben. Eine Aufgabe, die zu schwer erscheint.
Döllings Beschreibung von Julias Verlusterfahrung ist eindringlich, bilderreich und detailliert. Nicht immer sind die Bilder gelungen, hin und wieder hätte eine Beschränkung aufs Wesentliche nicht geschadet. Die Ambivalenz starker Erinnerung an Tote dagegen, der Grat zwischen Sehnsucht und Grauen vor dem Unbekannten, wuchert zwischen den Zeilen und macht das Ganze nachfühlbar. Julias Weg zu einem Medium schließt sich folgerichtig an, verstärkt das eher unheimliche Moment und, durch einen sehr geschickten Kniff, zugleich den Fokus auf Kolja. Die Frage nach seinem Tun stellt sich der Leserin erst ganz allmählich und ersetzt das leichte Grauen vor dem Jenseits durch eine Angst vor etwas höchst Realistischem.
Ein wenig irritierend ist die starke Verortung der Handlung, hier in Berlin, mit Nennung von Straßennamen, Cafés, Freizeitorten und kulturellen Informationen stracks aus dem Reiseführer. Das scheint ein Trend in neueren Romanen, der nicht zu begrüßen ist. Er trägt wenig zur Figuren und Atmosphäre bei, im schlimmsten Fall endet es beim Kulissenbau.
Sex als Droge
Der Roman richtet sich deutlich an ältere Leserinnen und Leser unter der jugendlichen Zielgruppe. Sexuelles spielt eine große Rolle. Liebe wird hier nicht sublimiert und idealisiert. Körperliches ist wesentlich, denn auch ein Schmerz, wie ihn Julia seelisch erfährt, wirkt sich körperlich aus. Döllings Geschichte hat ihre eigene Konsequenz. Konsequent ist es auch, Kolja eben das ausnützen zu lassen, um Julia an sich zu binden. Das macht die Beziehung der beiden umso gefährlicher. Wo in anderen Romanen in vergleichbaren Situationen etwa über Alkohol oder Selbsttötungsgedanken diskutiert wird, wird hier Sex als Droge thematisiert. Das ist originell und ein wichtiger Fingerzeig, erfordert aber auch eine Leserinnenschaft, die nicht auf Romantisches geeicht ist. Eine solche wird eher enttäuscht sein, denn Romantisches wird hier entlarvt als das, was es viel zu oft ist: Mittel zum bösen Zweck. Die Zeichen der Liebe, von Blumen und liebevoll gekochten Mahlzeiten über erotische Dessous bis hin zum Ring sind Zeichen der Gefahr und des drohenden Untergangs einer jungen Frau, eine Seite der Romantik, die gerade in Jugendromanen viel zu selten angesprochen wird.
Sich nicht verlieren
Ein weiteres wichtiges Motiv, eben weil sich die Geschichte an ein vornehmlich weibliches Publikum richtet, ist die Rolle, die eine junge Frau einnehmen muss, in der Liebe, nicht umfassend im Leben. Man geht so leicht verloren im großen Fühlen. Das passiert Julia. Ihre Beziehung zu Jonas endet, lange bevor ein Alltag sich entwickeln konnte, mit seinen ganz normalen Konflikten. Julia idealisiert Jonas und reagiert instinktiv auf den Köder, den Kolja auslegt. Tatsächlich hat auch Kolja sich verloren, entsprechend hart sind seine Reaktionen, als Julia langsam wieder Boden unter den Füßen gewinnt. Manches an Kolja ist ein wenig zu einfach dargestellt, auch Annes Erklärung erfasst nur einen Teil einer so komplexen psychischen Verfasstheit. Die Hilflosigkeit der Eltern und der besten Freundin dagegen wirkt realistisch, wie auch ihre Art, mit dem Geschehen umzugehen. Charlotte zupackend, die Eltern behutsam, zuweilen zu sehr. Das Bemühen Döllings, möglichst viele Facetten des Umgangs mit Trauernden einzufangen, bringt der Leserin viele überraschende Momente und vor allem wichtige Einsichten, etwa die, wie schnell man sich verlieren kann.
Das Ende ist eigentlich der Anfang. Für Julia. Ein Leben ohne Romeo, ein Leben nach dem Trauma.
| MAGALI HEISSLER
Titelangaben
Beate Dölling: Je mehr ich dir gebe
Köln: Bastei Lübbe 2014
288 Seiten, 12,99 Euro
Ab 16 Jahren