Gesellschaft | Ulrich Ladurner: Lampedusa
Fast wöchentlich gehen Bilder von Ertrunkenen oder gerade noch Geretteten durch die Medien. Flüchtlingsszenen als negative Ikonen der hartherzigen Abschottungspolitik Europas gegenüber den globalen Migrationsbewegungen. Lampedusa ist zum Symbol einer europäischen Schande geworden. Oder vielmehr gemacht worden. Denn Lampedusa ist mehr als die allgegenwärtigen Bilder. Für Ulrich Ladurner ist es ein Ort, an dem Kulturen, Wanderungen, Geschichte und Gegenwart, große Ereignisse und kleiner Alltag zusammentreffen, kurz: ein Spiegel Europas. Von PIEKE BIERMANN
Gleich diesseits von Afrika, nur 120 Kilometer von der libyschen Küste entfernt, ragt der vorletzte Zipfel von Europa aus dem in jedem Wortsinn brodelnden Mittelmeer: Lampedusa. Nur Gibraltar liegt noch dichter dran. Die gut zwanzig Quadratkilometer schroffer Stein sind zu klein für die Wetterkarte des italienischen Fernsehens, stellt Ulrich Ladurner erstaunt fest, während draußen richtig Wetter ist. Aber sie sind seit Jahren groß in allen Medien – als Symbol für die neue Welt-Unordnung seit dem Ende des letzten Kalten Kriegs. »Lampedusa« ist nach »Sarajewo« zum zweiten Synonym für Europas Versagen geworden. Aber was wir von dem Ort erfahren, schnurrt zusammen zu den immer gleichen Bildern von erschöpften Männern, Frauen und Kindern, die es tatsächlich in Nussschalen übers Meer geschafft haben – oder eben nicht –, und mulmigen Gefühlen über unsern Umgang mit dem »Flüchtlingsproblem«.
Mehr Randlage geht nicht. Und so hat leichtes Spiel, wer Lampedusa zum »Außenposten« oder »Einfallstor« degradiert, um sich mit teuren, ausgeklügelten Unternehmen wie Frontex gegen die Folgen der globalisierten Migration abzuschotten. Oder anders gesagt: Wer die Insel als »Nadelöhr« missbraucht, um die eigenen Grenzen immer weiter nach Süden zu schieben. Dahin, wo man die eigenen unappetitlichen repressiven Vorgaben in die Hände skrupelloser Diktatoren legen kann, die eines Gaddafi zum Beispiel.
Politik und ihre Militärstrategen waren immer da
In Wahrheit liegt Lampedusa mitten im Herzen von Europa. Man muss nur hinsehen. Ulrich Ladurner tut das, er ist Auslandskorrespondent, seit vielen Jahren auf Krisenregionen spezialisiert, und er ist kein »Fallschirmreporter«, der mal eben einschwebt, einsammelt, ausspuckt und wieder entschwebt. Er nimmt sich Zeit für Menschen und ihre Orte. Er beobachtet, hört zu, sammelt, bohrt an scheinbar unbedeutenden kleinen Punkten in die Tiefe und schweift in die Breite. Vor allem lässt er sich irritieren und konfrontiert, was er findet, mit dem, was er mitbringt. So spürt er Zusammenhänge auf, für die die mediale Kurzatmigkeit keinen Sinn hat. Und so entfaltet sich, weil er auch noch verdammt gut schreiben kann, Lampedusa wie ein Europa im Miniaturformat.
Alles ist da: zuschanden gerodeter Boden, eine tückische See und grausame Stürme, eine jahrhundertelange Geschichte von Piraterie, Sklavenhandel, Eroberungskriegen und ein eigensinniges und ziemlich anarchisches Völkchen, das von Obrigkeit und Recht & Ordnung nicht sonderlich überzeugt ist, das Grundgesetz der Seefahrt dagegen unbeirrt beherzigt: Menschen in Not rettet man, egal, wer sie sind. Kein Wunder, dass sich hier 1943 Tausende mussolinimüde Soldaten einem notgelandeten jüdischen Kampfflieger der Royal Air Force ergeben, dem auf dem Weg nach Malta das Kerosin ausgegangen ist. Der Coup schafft es, noch während auf dem Kontinent die Vernichtungsmaschinerie der Nazis läuft, auf eine Londoner Theaterbühne.
Von Lampedusa lernen
Auch die große Politik und ihre Militärstrategen waren immer da – von Karl dem und Katharina der Großen über die Alliierten im Zweiten Weltkrieg bis zur NATO. Und mancher Grande der Literatur hat dieses kleine Stückchen Europa zum Ort seiner Reflexionen über Tod und Leben und die ganze tragicomédie humaine gemacht – Ariost für seinen »Orlando Furioso« mit Sicherheit, Shakespeare für seinen »Sturm« mit einiger Wahrscheinlichkeit. Der Verfasser des »Gattopardo« dagegen, der so heißt wie die Insel, die seine verarmte Familie 1842 verkauft hatte, bespöttelt sie als »melancholischen Felsen«.
Lauter »Leuchttürme« der europäischen Kultur, deren Strahlen Ladurner immer wieder auf die Menschen hier und heute fallen lässt. Das Große und das Kleine. Er muss sie nicht auf irgendeine ideologische »Linie« bringen. Sie spiegeln wie von selbst zurück, was der ganze verdammte Kontinent sein könnte, wenn wir Resteuropäer von Lampedusa lernen würden.
Eine frühere, nur teilweise autorisierte Version der Rezension wurde am 5. Mai 2014 bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht, ein Gespräch mit Pieke Biermann ist als Audio on Demand verfügbar.
Titelangaben
Ulrich Ladurner: Lampedusa – Große Geschichte einer kleinen Insel
St. Pölten: Residenz 2014
144 Seiten. 19,90 Euro
Reinschauen
| Unser großes, weißes, mittleres Meer – Pieke Biermann zu David Abulafia: Das Mittelmeer
| The deadly threat of friendly Euro fire – Costas Douzinas im Interview