Kulturbuch | Kay Schiller: WM 74. Als der Fußball modern wurde
Brasilien wirft Schatten voraus, düstere Schatten, die FIFA ist zu einem geldfressenden Ungeheuer mutiert, bewohnt von hirn- und seelenlosen Greisen – ein Trojan horse relaunched, das von einem triumphalen Einzug nach Brasilien träumt. Da fragen wir uns jetzt schon, wie das ausgehen wird. Nein, wir reden diesmal gar nicht von Fußball, Fußball ist ein schönes Spiel. Von WOLF SENFF
Fußball, möchte man meinen, hat Konjunktur, jedoch wie es aussieht, scheinen die spielerischen Aspekte in den Hintergrund treten zu wollen. Korruption und Geschäftspraktiken der FIFA rücken in die Schlagzeilen, die Weltmeisterschaft, die in wenigen Wochen in Brasilien eröffnet wird, löst dort heftige soziale Unruhen aus. In Deutschland ziehen ebenfalls Wolken auf, der Seit-einigen-Tagen-nicht-mehr-Präsident des amtierenden deutschen Meister und Champions-League-Siegers rückt in den Knast ein. Da wird der Deckel einer Szene gelupft, die kaltblütig immense Beträge absahnt, stets im Halbdunkel und vornehm und immer diskret.
Im Stande der Unschuld
Oh welch faszinierendes Einband-Foto von Franz Beckenbauer! Damals, anno 1974, war er noch nicht »Kaiser«, noch nicht ›BILD‹-Lohnschreiber und ›Kicker‹-Intimus, war er noch nicht innig verwoben mit UEFA- und FIFA-Honoratioren, hatte noch nicht seinen Wohnsitz nach Österreich verlegt, weil er sich weigerte, den Deutschen Steuern zu zahlen.
Fußball und seine Helden gewissermaßen im Stande der Unschuld, vierzig Jahre ist das her. Damals befand man sich, so werden wir in diesem Band aufgeklärt, »am Vorabend des Goldrausches«. Joel Havelange wurde zum Präsidenten der FIFA gewählt, und erst nach und nach wurde das Turnier durch Sponsoring und den Verkauf von Fernseh- und Werberechten einer Lizenz zum Gelddrucken gleich. In ›WM 74‹ geht es um eine Menge harter Fakten im Umfeld des Spiels, um seine Logistik gewissermaßen.
Populäre Stars, kühl rechnende Geschäftsleute
Immerhin, der Ertrag der WM 74 lag mit 50 Millionen DM doppelt so hoch wie der vier Jahre zuvor in Mexiko, und Kay Schiller stellt fest, dass 1974 die »Neuerfindung des Fußballs« als ein »globales Medienevent und zunehmend lukrative Ware« begann, 1976 wurde erstmals ein Sponsorenvertrag abgeschlossen, mit Coca-Cola. Für die nun bevorstehende WM 2014 bestehen zwanzig Sponsorenverträge, wir können uns vorstellen, welch schwindelnde Höhen die Beträge erreichen.
Ist doch mal aufschlussreich. Damals waren sie Fußballweltmeister und heute sehen wir, was aus ihnen geworden ist, aus Herrn Hoeneß zum Beispiel, so ändern sich die Zeiten, man ändert sich mit ihnen. Das Jahr 1974 scheint im deutschen Fußball in geschäftlicher, finanzieller Hinsicht ein Jahr des Aufbruchs gewesen zu sein, Spieler waren teils durch die offene Kultur der späten sechziger Jahre geprägt, teils vorwärtsweisend in einer Rolle als populäre Stars und kühl rechnende Geschäftsleute.
Fußball und Politik, eins
Der neu entstehende Spielertypus hatte ein hohes Einkommen, viel Freizeit und hatte kein Problem damit, seinen Reichtum auszuleben. Schon der »Prominentenauftrieb zum Endspiel« in München deutete an, dass Fußball zum Großereignis, zum »Ort der Selbstdarstellung« werden sollte. Kay Schiller beweist mit seinem Band zur WM 74 eine glückliche Hand und beschreibt den Ausgangspunkt einer ambivalenten Historie, die nunmehr in wenigen Wochen einen negativen Höhepunkt erreichen wird, wir dürfen gespannt sein.
Außerdem überrascht es, Fußball in andere Zusammenhänge gestellt zu sehen, in diesem Fall die WM 74 mit der Olympiade 72 – Konkurrenz zwischen Mega-Events – und nach dem Jom-Kippur-Krieg mit Ölpreisschock 1973, als Sparsamkeit gefordert war. Ach, und gibt auch das berühmt gewordene Qualifikationsspiel zwischen Chile und der Sowjetunion, dessen Rückspiel, von der Sowjetunion boykottiert, im Nationalstadion Santiagos wegen 9/11 nicht stattfand, ja, elfter September 1973, als – von Kissinger und CIA betrieben – in Chile Salvador Allendes Regierung gestürzt und Allende ermordet wurde. Tja, manchmal lassen sich Fußball und Politik nicht voneinander trennen, und im Zusammenhang des Spiels der Bundesrepublik gegen die DDR werden wir, damit auch diese Seite zu Wort kommt, über die sonderbare Selektionspraxis für die westreisenden Besucher aus der DDR informiert.
Fußball und Politik, zwei
Hinzu kommt, dass 74 sowieso Steinzeit des Fußballs gewesen war, was Größe und Komfort der Stadien angeht, nach heutigen Maßstäben, und ebenso im Hinblick auf die Zuschauerzahlen; der abträgliche Bundesligaskandal zog sich von 1971 hin bis 1975, als acht Schalker Profis wegen Meineids zu hohen Geldstrafen verurteilt wurden.
Politisch war’s in Deutschland eine Zeit des Aufbruchs, oder? Willy Brandt war 72 nach dem Misstrauensvotum wiedergewählt worden, immerhin, doch Politik begann Routine zu werden, seine Ablösung durch den schneidigen Sturmflutinnensenator Helmut Schmidt deutete sich an, und am 16. Mai 74, rund vier Wochen vor Beginn der WM, wurde dieser zum Kanzler gewählt, dramatische Zeiten, doch Schmidts Interesse für Fußball hielt sich in engen Grenzen.
Fußball kann ein Barometer sein
Ob dieses Desinteresse der eigentliche Grund für die hervorragenden Leistungen der Nationalmannschaft war? Weiß man’s? Gustav Heinemann, Bundespräsident, besuchte 1974 zwar das Eröffnungsspiel, verdrückte sich aber schon zur Halbzeitpause. Heute, da Politik kein Fußballspiel versäumt, gibt’s in beiden Bereichen nichts als Elend. Vielleicht hat’s Zukunft, wenn sich die Wege wieder trennen.
Im letzten Kapitel lesen wir einen interessanten Vergleich zwischen den Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf die WM 54, die WM 74 und die WM 2006 und lernen, dass der Fußball tatsächlich ein hochsensibles Barometer für Bewusstsein und Selbstgefühl einer Gesellschaft ist. Die deutsche Mannschaft war im Jahr 1972 Europameister geworden, man spricht noch heute vom besten deutschen Fußball aller Zeiten.
Titelangaben
Kay Schiller: WM 74. Als der Fußball modern wurde
Berlin: Rotbuch 2014
192 Seiten. 14,95 Euro
Lesung
Kay Schiller liest aus ›WM 74‹
Dienstag, 10. Juni 2014, 19:00 Uhr
Schloss Herrenhausen, Herrenhäuser Straße 5, 30419 Hannover
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