Gänsehaut für laue Sommerabende

Jugendbuch | Felix Scheinberger (Hg.): Schaurigschöne Spukgeschichten für schwarze Nächte

Die Hochzeit der klassischen Gespenstergeschichte liegt lange zurück, das Genre ist in Vergessenheit geraten. Entstanden vor allem im 19. Jahrhundert u.a. aus dem Zweifel an einer durch Wissenschaft immer eindeutiger erklärbaren und mit moderner Technik beherrschbaren Welt, scheinen diese Gründe heute überwunden. Der Horror wiederum ist längst durch Splatter ersetzt.
Dass klassische Spukgeschichten zu Unrecht vergessen sind, beweist Felix Scheinberger mit seiner aufregend komponierten Anthologie ›Schaurigschöne Spukgeschichten für schwarze Nächte‹, die für reichlich Gänsehaut an lauen Sommerabenden sorgen kann. Von MAGALI HEISSLER

FelixScheinberger Schaurigschoene-SpukgeschichtenZehn Geschichten hat Scheinberger ausgewählt, aus gut einhundertachtzig Jahren, von 1782 bis in die 1960er. Die Autorin und die Autoren stammen aus Deutschland, England, den USA und Belgien. Es beginnt stimmungsvoll mit dem grausamen Erlkönig, der ein Kind raubt. Das Lied ist viel verspottet, verrufen, angefeindet, noch in den 1980er Jahren sollte es aus manchen Schulbüchern verbannt werden. Eine grundfalsche Überlegung aus durchaus richtigen Gründen, der Text hat, liest man ihn mit der gebührenden Aufmerksamkeit, nichts von seinem Grauen verloren.

Die Zusammenstellung ist nicht chronologisch, das Anliegen ist hier weder historisch noch literaturwissenschaftlich. Die Mehrzahl der Geschichten stammen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Das Unerklärliche trifft die Leserinnen und Leser hier mit einer Selbstverständlichkeit, die eine zusätzlich schaudern lässt. Die Welt ist nicht museal, mit viel Plüsch ausgestattet. Viele Begebenheiten spielen in einer sehr detailliert geschilderten, an der Entstehungszeit gemessen, modernen Welt. Es gibt Telefon und Autos, man fährt mit Dampfschiffen über den Ozean. Doch all das schützt nicht vor dem unerklärlich Unheimlichen, das da lauert.
Es sind kleine Gegenstände, eine seltsame Pfeife, eine Affenpfote, die das Grauen auslösen, gewöhnliche Orte, ein Kino, etwa oder ein Weg durch einen Park, manchmal einfach nur die Nacht, ihrerseits seit Urzeiten ein Bild für Gefahr für Leib und Leben.

Warum muss gerade mir das passieren?

Etwas Unerklärlichem kann jeder und jedem begegnen. In den seltensten Fällen geht es dabei darum, Unrecht wieder gutzumachen. Gespenster und andere Spukgestalten sind nicht auf die Funktion als moralische Instanz reduziert. Im Gegenteil entscheidet etwas über die Begegnung, das ebenso wenig erklärt werden kann, wie das Geschehen. Allerdings gibt es Situationen, in denen die Betroffenen selbst die Entscheidung herbeiführen, wissentlich oder aus purer Neugier. Dem, was dann über sie hereinbricht, sind sie selten gewachsen. Warum muss gerade mir das passieren? fragt der Protagonist in Graham Greenes Geschichte ›Ein Hinterhaus unweit der Edgeware Road‹. Er scheitert an dem Unvermögen, das Geschehen zu fassen.

Damit gewinnen die Geschichten einen sehr aktuellen Aspekt. Nicht wissenschaftlicher und technischer Fortschritt sind suspekt, der Blick ist nicht auf den Verlust überkommener Werte gerichtet. Hier kann man die Frage nach der Rolle des Individuums in der Gesellschaft stellen, nach seiner Verantwortung für die Folgen, die die gedankenlose Verwirklichung seiner Wünsche hat, sein naives Herumspielen mit etwas, das er nicht versteht. Die Folgen der Handlung anderer. Der Einzelne und die Gesellschaft gehören zusammen. Spukgeschichten sind nicht nur Spannungsliteratur, sondern immer noch moralisch und damit komplex über den momentanen Effekt hinaus. Die moralische Frage ändert sich dabei nach der jeweiligen Gegenwart der Leserin, aber sie bleibt moralisch. Was spricht mehr für eine Lektüre als das?

Das Grauen sichtbar machen

Scheinberger hat sich nicht nur über die Textauswahl Gedanken gemacht. Die kleine Sammlung ist auch besonders illustriert. Zuständig für die schwarz-weiß-Abbildungen in unterschiedlichen Techniken waren Studierende des Fachbereichs Design der FH Münster. Entstanden sind Illustrationen, von ganzseitigen bis zu winzigen Vignetten, die das Geschehen im Text auf ihre Art lebendig werden lassen. Je nach Auffassung der bearbeitenden Künstlerinnen und Künstler bilden die Illustrationen ab, verdeutlichen oder lassen durch bewusst eingesetzte Rätselhaftigkeit neue Geschichten entstehen. Neben dem Wort gibt es also auch einen starken visuellen Reiz. Hin und wieder kann er vom Text ablenken.

Es ist das Wort bei Geistergeschichten, dem man sich anvertrauen soll, den vielfältigen Bedeutungen, Konnotationen, den Assoziationen, die es hervorruft. Insgesamt aber ist das Bändchen eine Zierde für jedes Bücherregal. Auch wenn es sich um ein schlichtes Taschenbuch handelt.

Allerdings gibt es einen ernsthaften Einwand gegen die Art, alte Spukgeschichten heute einem jüngeren Publikum zu präsentieren. Das sind die Übersetzungen. Sie klingen oft holprig, ein bisschen altmodisch. Für diese Klassiker fehlen Neuübersetzungen. Sie sollten weniger zeitgenössisch oder gar der Jugendsprache angepasst, sondern vielmehr literarisch sein, also sprachlich dem Besten entsprechen. Das verdienen sie nämlich unbedingt.

Bis dahin muss man sich mit dem Vorhandenen zufriedengeben, womit man nicht schlecht bedient ist. Das braucht aber den Entschluss, sich auf etwas Anderes einzulassen, sich diesem eigentümlichen Genre tatsächlich hinzugeben. Alte Gespenstergeschichten nicht als Mutprobe oder zum Fortlachen und schon gar nicht oberflächlich zu lesen, sondern sie als das zu akzeptieren, was sie sind: Geschichten von der Angst, die ganz tief in Menschen steckt.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Felix Scheinberger (Hg.): Schaurigschöne Spukgeschichten für schwarze Nächte
Hamburg: Rowohlt rotfuchs 2014
192 Seiten, 7,99 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren

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