Vom Staat, den es nicht gibt

Film | Filmfest auf der Alster Hamburg, 18. bis 21. September 2014

Zum Filmfest Hamburg wird freiluft auf der Binnenalster ein Vorlauf vom 18. bis 21. September gezeigt, das Filmfest in geschlossenen Räumlichkeiten beginnt am fünfundzwanzigsten. Das Filmfest Hamburg hat traditionell diverse Themenbereiche, in der ›Sektion Deluxe‹ werden Filme aus ausgewählten Ländern oder Regionen vorgestellt: Iran (2013), davor Quebec (2012), auch Finnland (2006), auch Österreich (2005). Von WOLF SENFF

Ein solches Prinzip kann auf Dauer durchaus eintönig werden, doch diesmal zeigen sie DDR, fünfundzwanzig Jahre nach der Vereinigung bzw. dem Beitritt. Für das Filmfest sind zehn DEFA-Filme vorgesehen, und die Leinwand auf der Binnenalster wird dieses Thema an vier Abenden vorwegnehmen. Nächte an der Binnenalster können romantisch sein, die Filme sind Renner gewesen.

Roter Orpheus

Wir nehmen im Alltag selten wahr, wie das Erbe der DDR unsere Gegenwart prägt. Die ›Schule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin‹ hat mit Simone Thomalla, Sylvester Groth, Claudia Michelsen etc. pp., Charly Hübner, Devid Striesow nach dem Beitritt, und zahllosen anderen ein großes Gewicht in unserer TV-, Film-, Schauspielszene.

Ernst Busch war dem ›Freien Westen‹ politisch keineswegs unverdächtig, immer schon sang er aufwieglerische Lieder und ließ sich auch von den Nazis nicht einschüchtern; er wurde als »roter Orpheus« gerühmt, als »Barrikaden-Tauber«. In der Hauptstadt, wie schön, sah man die Angelegenheit 1989 nicht so eng und hatte kein Problem mit dem Namen der Schauspielschule.

Die ärmste Stadt der Republik

Es gibt andere Beispiele, die unser zwiespältiges Verhältnis zur DDR zeigen. Neben Rübezahls großem Gebirge in Leipzig, wo neuerdings Red Bull nach dem Ball tritt – da verhielt sich das komplett anders. Das ›Institut für Literatur Johannes R. Becher‹, 1955 in Leipzig gegründet, sollte nach dem Beitritt geschlossen werden, denn überall vermuteten die misstrauischen neuen Herren Kaderschmieden, an jeder Ecke schien der Kommunist zu lauern die Stimmung im Westen war freudig, aufgeregt – und voller Argwohn.

Der verdächtige Namenspatron Johannes R. Becher war nicht nur Kulturminister im ›Unrechtsstaat‹ gewesen, sondern auch noch Verfasser der Nationalhymne der DDR, das ging in Boomtown Leipzig überhaupt gar nicht. Überhaupt fällt es schwer, Zweckpropaganda – von welcher Seite auch immer – und Realität auseinanderzuhalten. Real ist Leipzig zurzeit statistisch die ärmste Stadt der Republik und muss man sich nur mal ansehen, wie sie massiv Euro ausschütten, um ihre Einkaufscity für Luxuskonsum aufzubrezeln. Und fahrn Sie anschließend mal bitte die Eisenbahnstraße entlang oder gehen Sie nach Sellerhausen.

Thomaner, Leipzig

Dann waren einige Jahre Pause, Moratorium, Bedenkzeit, und als die erhitzten Gemüter sich abgekühlt hatten, entschied man pragmatisch, das Institut der Universität anzugliedern, politisch neu auszurichten. Der ›Freie Westen‹ zelebrierte seinen Einzug, und seitdem arbeitet das ›Deutsche Literaturinstitut Leipzig‹, und inwieweit dieses Institut den gegenwärtigen Zustand der Literatur verantwortet, darüber lässt sich trefflich streiten.

Ein anderes Beispiel ist der Umgang mit dem Thomanerchor. »Der Thomanerchor wurde auf Initiative des Markgrafen Dietrich des Bedrängten von Meißen im Jahre 1212 noch unter Kaiser Otto IV. zusammen mit der Thomanerschule gegründet«, verrät uns Wikipedia, schreibt aber zu den Ereignissen im Zusammenhang des Beitritts bedauerlicherweise ebenfalls nur einen einzigen Satz.

Freunde, die Zuflucht gewähren

Hans-Joachim Rotzsch, seit Mai 1972 Thomaskantor in Leipzig, war beim Ministerium Staatssicherheit der DDR wie viele, viele andere als ›Inoffizieller Mitarbeiter‹ geführt. Die politisch neu ausgerichtete Behörde entließ ihn im Mai 1991, was unter den Thomanern und in der Leipziger Bevölkerung heftige Proteste auslöste.

Die Behörden führten ihre politischen Säuberungen rücksichtslos und unverblümt durch, da waren die harten Hunde des Westens am Werk, ihre beschämende Gründlichkeit wurde zu einem würdelosen Schmierentheater. Hans-Joachim Rotzsch verließ Deutschland und nahm von 1992 bis 2000 eine Gastprofessur am Mozarteum in Salzburg wahr. So ging’s zu, leider. Wie angenehm, im Ausland Freunde zu haben, die Zuflucht gewähren.

Brüder und Schwestern

DDR ist ein naheliegendes Thema. Wir können eine Menge lernen, auch über uns selbst, und man darf sich freuen auf die Reihe der DEFA-Filme und den Rückblick auf ein Land, das, wie man sieht, für einige ausschließlich als Hassobjekt existierte, dem es was auch immer heimzuzahlen galt, und das dem ›Freien Westen‹ noch heute als Negativfolie dient.

Zum Glück erinnern sich hinreichend Leute, dass dort »unsere Brüder und Schwestern« lebten. ›Sektion Deluxe‹, erster Abschnitt, wird im Freiluftkino Binnenalster vom 18. bis zum 21. September gezeigt, alles Übrige im Programm vom 24. September bis zum 2. Oktober.

| WOLF SENFF

Binnenalster Filmfest
Eins, zwei, drei (USA 1961, Billy Wilder), 18.09., 20:30 Uhr
Sonnenallee (D 1999, Leander Haußmann), 19.09., 20:30 Uhr
Good bye, Lenin! (D 2003, Wolfgang Becker), 20.09., 20:30 Uhr
Das Leben der anderen (D 2006, F. H. v. Donnersmarck), 21.09., 20:30 Uhr

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kafka im Comic

Nächster Artikel

Folkdays aren’t over – Eleni Mandell/Emily Barker& The Red Clay Halo

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Einer so, der andere so

Film | Im Kino: Jane got a gun / The Hateful 8 Auferstehung? Nein, nicht wirklich. Es kommt nun einmal vor, dass müde, blasse, stumpfe Schatten, die irgendwo scheinbar nutzlos herumliegen, unversehens mit neuem Leben erfüllt werden, und der Wildwestfilm trabt plötzlich wieder quicklebendig über die Leinwand, diesmal in zwei grundverschiedenen Ausführungen, die dieser Tage in die deutschen Kinos gelangen. Von WOLF SENFF

Leben wie Erdbeben

Film | Japan-Filmfest Hamburg: ›Slum Polis‹, Japan 2014 ›Slum Polis‹ versetzt uns in das Japan des Jahres 2041, der Westen des Landes ist durch ein schweres Erdbeben verwüstet, als Location willkommen waren deshalb die zu Weihnachten 2011 vom Tsunami verwüsteten Regionen Japans, die Gegend sieht übel aus. Zwischen den Trümmern, so die Erzählung, formieren sich autonome Gebiete mit eigener Währung und Administration, die nationale Regierung greift nicht ein, sie überlässt diese Regionen des Elends einer urwüchsigen Anarchie. Von WOLF SENFF

Vom Verschwinden des Menschen im Mineral

Film | Michelangelo Frammartino: Vier Leben Der 1968 in Mailand geborene Michelangelo Frammartino, dessen Familie ursprünglich aus Kalabrien stammt, hat seinen zweiten (wie schon seinen ersten uns allerdings unbekannten) Film in der Heimat seiner Vorväter gedreht – dort, wo das Mezzogiorno hoffnungslos – von Gegenwart & Zukunft verlassen – mit dem archaischen Kontakt und die bösartige »Ndrangheta« mafiotisch ihr Ursprungsrevier unter Kuratel hält. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Mariss Jansons besiegt Stefan Herheim im Duell

Film | DVD: Tschaikowski – Eugen Onegin Tschaikowskis Eugen Onegin gehört zum festen Repertoire der Opernhäuser. In den vergangenen Jahren konnten zwei so unterschiedliche Inszenierungen wie die von Achim Freyer in Berlin und von Andrea Breth in Salzburg die anhaltende Wirkung dieses Bühnenwerks bestätigen. In Amsterdam hat der deutlich jüngere Norweger Stefan Herheim sich seiner angenommen. Herheim ist für seine enigmatischen Inszenierungen bekannt und nicht unumstritten. Er neigt dazu, sich mehr zu denken, als er szenisch zu vermitteln mag. Ohne Erläuterungen ist das Publikum bei ihm oft ratlos. Von THOMAS ROTHSCHILD

Der Fantast

Film | Im Kino: Shape of Water – Das Flüstern des Wassers Ein Monsterfilm als Oscar-Favorit? Im oft engstirnigen Hollywood fast undenkbar, 2018 aber Realität. ›Shape of Water‹, im deutschen Titel unnötig mit dem Zusatz ›Das Flüstern des Wassers‹ versehen, geht als scheinbar aussichtsreichster Kandidat in das diesjährige Rennen um den begehrten Goldjungen. 13 Mal nominierte die Academy das neue Werk von Guillermo del Toro, unter anderem in den Königskategorien, für den besten Film und den besten Regisseur. FELIX TSCHON fragt sich: »Was steckt hinter der Euphorie?«