Kulturbuch | Christoph Biermann: Wenn wir vom Fußball träumen
In den siebziger Jahren sei Fußball »wenig gesellschaftlich akzeptiert« gewesen? Hm. Zur EM 1972 spielte die grandiose Elf mit Günter Netzer, der für die intellektuelle Qualität seines Spiels bewundert wurde, und noch heute gibt’s ernst zu nehmende Leute, die diese Mannschaft für die beste deutsche Elf aller Zeiten halten. Und das legendäre Pokalfinale Gladbach gegen Köln, in dem sich Netzer selbst einwechselte? Von WOLF SENFF
Gladbach war damals eine Ausnahmemannschaft und hatte, so Christoph Biermann, »mit Hennes Weisweiler einen visionären Trainer und mit Helmut Grashoff den ersten Manager im deutschen Fußball«. Aber die Tatsache, dass Fußball inzwischen zum Geschäft geworden war, habe dem Fußball im Revier mehr noch zu schaffen gemacht als der Strukturwandel der Region.
Wärmestrom und Kältestrom
Christoph Biermann schreibt Regionalgeschichte, und er geht dabei genau so vor wie jemand, der die noch erfahrbare Geschichte seines eigenen Lebensraums aufschreiben will, er führt diverse Interviews mit gut bekannten und weniger bekannten Gesprächspartnern. Es geht um das Ruhrgebiet, den Ruhrpott, kurz: das Revier, also eine Region, die im Nachkriegsdeutschland von außerordentlicher Bedeutung war und wo mit Willy Brandts visionärem »Blauer Himmel über der Ruhr« bereits 1961 auf die große Umstrukturierung einer bedeutenden Bergbauregion hingewiesen wurde. Das Revier wurde de-industrialisiert, erste Zechen hatten bereits 1959 schließen müssen, das lang gezogene Ende der Montanindustrie war eingeleitet.
Das ist in der Kürze einer Rezension nur eine dröge Wiedergabe dessen, was Biermann äußerst lebendig und detailfreudig vor Augen führt. Er empfindet den Wandel des Fußballs im Revier in Begriffen von Ernst Bloch als einen »Wärmestrom«, der den grundlegenden Wandel ökonomischer und gesellschaftlicher Umstände, den »Kältestrom«, begleite und für den Menschen erträglich gemacht habe.
Sehnsucht nach Verbundenheit
Dieser Widerspruch bleibt präsent: »Ich bin Schalke-Fan«, zitiert er einen seiner Gesprächspartner, »ich bekomme das aus meinem Körper nicht mehr raus. Samstag, wenn die spielen, geht der Puls anders, und ich will auch, dass diese Arschgeigen gewinnen. Aber jede Faser meines Verstandes sagt mir: Du bist bekloppt! Was hast du mit diesem Konzern noch zu tun?«
Die Fußballleidenschaft, so Biermann, bringe tiefe Sehnsucht nach dem Gefühl von Verbundenheit zum Ausdruck, er erzählt vom MSV Duisburg, 2013/14 dritte Liga, und dem ›User Plato‹, für den »der MSV als soziale Gemeinschaft für mich neben meiner Familie tatsächlich sinnstiftender Teil meines Lebens ist«.
Anarchischer Humor
Man denkt jetzt, alles paletti, und herrlich, wie er den weiten Raum beschreibt, den Fußball in der Seele des Ruhrgebiets einnimmt, schön zu lesen, aber ist längst nicht alles und längst nicht problemfrei. Denn generell finde mit Erneuerung der Stadien inklusive Ausstattungskomfort eine Modernisierung und Gentrifizierung des Fußballs statt, ablesbar seit 1992, da sich ausgehend von England die Premier League gegründet habe: Abschaffung der Stehplätze und »über die Preisgestaltung für Tickets wurde Stück für Stück das Publikum in den Stadien ausgetauscht«. In Deutschland wurde, ›SAT.1‹, mit ›ran‹ aus Fußball im privaten TV eine Show gemacht, und mit ›Premiere‹ entstand ein Pay-TV-Sender.
Beinahe zeitlich parallel sei im Ruhrpott eine mächtige Basis für anarchischen Humor – »Woanders ist auch scheiße« als selbstironisches Bekenntnis – entstanden, als deren prominentester Vertreter mittlerweile Helge Schneider gelten dürfte, das Land entwickelte, wenngleich auch ›Notwehrhumor‹ vorkam, ein erstaunliches Selbstbewusstsein.
Eine erdrückende Unternehmenskultur
Sämtlichen Gentrifizierungsbestrebungen zum Trotz gebe es mit diversen dritt- und viertklassigen Vereinen eine lebendige, quasi unkaputtbare traditionelle Fußballkultur, »Fußball in der Grundausstattung«, »harte Jungs, ehrliche Burschen, echte Maloche, wenig Geld« – klar, auch nostalgische Sentimentalität wird bedient, Fankultur eben. Nein, es ist schwierig, dieses Buch aus der Hand zu legen, wenn man erst einmal begonnen hat zu lesen, Christoph Biermann schreibt eine mitreißende Kulturgeschichte des Reviers.
Dazu gehört wohl auch der Abschnitt, in dem er über die Pflege der eigenen »Marke« beim VfL Bochum qua »Leitbild« und bei Borussia Dortmund qua »Präsentation der Kernkompetenzen« schreibt; diese postmoderne Unternehmenskultur wird inklusive »Qualitätsmanagement« seit Jahren über das Land ausgebreitet. Man darf den verhaltenen Bemerkungen Biermanns entnehmen, dass auch er nichts Rechtes damit anzufangen weiß. »Zwischen den Polen Kommerz und Sentiment, Geld und Gefühl verläuft im Fußball eine komplizierte Frontlinie«.
Titelangaben
Christoph Biermann: Wenn wir vom Fußball träumen. Eine Heimreise
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014
254 Seiten. 18,99 Euro
Reinschauen
| Leseprobe