Abenteuerliches

Jugendbuch | Jennifer Benkau: Marmorkuss

Bearbeitungen von Märchen für Kinder und Jugendliche erfreuen sich beträchtlicher Beliebtheit. Was dabei herauskommt, ist viel zu oft Klamauk, Schmonzette, Banalität und Beliebigkeit. Das Ende des traditionellen Märchens also, mit seinen Ecken und Kanten, dem Nicht-Verstehbaren und seinen Untiefen. Hier kommt eine weitere Variante. Jennifer Benkau hat Motive aus Dornröschen aufgenommen und in ihrem jüngsten Roman ›Marmorkuss‹ Abenteuerliches vorgelegt. Von MAGALI HEISSLER

MarmorkussJarno ist neunzehn. Er hat keine Pläne, er hat einen Traum. Er möchte Fotograf werden. Ein weltberühmter. Die Umstände sind gegen ihn. Nicht nur gibt es in der namenlosen Stadt, in der er lebt, keine Ausbildung dafür, er hat auch keinerlei Unterstützung. Seine Familienverhältnisse sind wenig schön. Er lebt nicht mehr zu Hause, muss aber bei den häufigen Krisen in seiner Familie die Rolle des Retters übernehmen. Dass er sich allein durchschlägt, hat ihn von dieser Rolle nicht befreit. Es sind sein Verantwortungsgefühl und seine Liebe zu seinen jüngeren Geschwistern, die ihm Ketten anlegen. Er hasst sie, aber er kann sich nicht befreien.

Klara kämpft ebenfalls gegen Ketten. In der namenlosen Stadt, in der sie lebt, gehört es sich nicht für junge Frauen, selbstständig zu sein und einen Beruf zu haben. Klara träumt davon, Lehrerin zu werden. Das ist zwar möglich, aber es bedeutet, dass sie für immer auf eine Ehe verzichten muss. Der Konflikt ist schwer zu ertragen, umso mehr, als sie verliebt ist. Johan, mit dem sie sich heimlich verlobt hat, hat viel Verständnis für sie, aber die Welt ändern kann er auch nicht.
Über hundert Jahre trennen Klara und Jarno. Damit sie sich begegnen, muss eine Zauberin auftreten, die ein böses Spiel treibt. Das tut sie auch.

Fallstrick Romantik

Das Ganze ist bewusst zeitgemäß ausgearbeitet. Wer auf eine Märchengeschichte hofft, wird hier nicht glücklich. Der Protagonist, Jarno, ist eine Mischung aus Pechvogel und Tollpatsch. Für seine neunzehn Jahre und gemessen an seiner Lebenserfahrung ist er naiv und lässt einiges an purem Überlebensinstinkt vermissen. So manche Patsche, in die er gerät, lässt eine eher den Kopf schütteln, als das geforderte Mitleid empfinden. Die Autorin ist derart bemüht, ihn von jedem noch so geringen Verdacht, ein Prinz zu sein, freizuhalten, dass sie übers Ziel hinausschießt. Vor allem übersieht sie den dicksten Fallstrick, die Romantik. Sobald Jarno sein weibliches Pendant gefunden hat, wird er zum klassischen Retter, den seine Schöpferin zudem in sentimentalen Szenen agieren lässt, die überdeutlich zarte Teenagerherzen zum heftigen Schlagen bringen sollen.

Benkau ist weniger eine klassische Geschichtenerzählerin als eine Autorin, die die Handlung als Folge von Szenen darbietet und ablaufen lässt wie einen Film. Die gezielt nach Effekt ausgewählten Szenen gelten vornehmlich dem Wecken von Schlüsselreizen und sind versiert eingesetzt. Verwirrt werden mag so manche Leserin herkömmlicher Unterhaltung durch einen schreibtechnischen Kunstgriff, mit dessen Hilfe die beiden Zeitebenen des ersten Romanteils miteinander verknüpft werden. Betrachtet man ihn als das, was er ist, die Überblendung, kommt man ausgezeichnet damit zurecht.

Klara, die weibliche Hauptfigur, gerät trotz des ihr zugedachten Strebens nach Emanzipation bald zur altbekannten verfolgten Schönheit und darf sich publikumswirksam an ihren Ängsten abarbeiten, bis zum vorhersehbaren Befreiungsschlag. Dass Jarno und sie füreinander bestimmt sind, muss man als Leserin einfach glauben. So ganz harmonieren die beiden nicht, als Figuren sind sie papierdünn und daher ungeeignet, Gefühlstiefe zu vermitteln.

Als Gegenpol zur klassischen Prinzessin hat die Autorin weibliche Selbstbestimmung ausgemacht, ein gefährliches Terrain. Wenn in dieser Geschichte nämlich jemand selbstbestimmt und selbstbewusst agiert, genau weiß, was sie will, und alles einsetzt, um sich zu verwirklichen, ist es eine gewisse Dame in Grün. Ausgerechnet sie ist die Böse.

Dies ist nicht diese Art von Märchen

Im Verlauf der Geschichte findet man sich mehr und mehr in einem herkömmlichen Jugendthriller. Mit den Versatzstücken dieses Genres scheint Benkau glücklicher zu sein als mit den Märchenelementen, sie jongliert sie geschickt. Die Sprache ist das, was heute als »rotzig« favorisiert wird, aber tatsächlich nur verbales Muskelspiel. Über längere Strecken verbraucht sich der Effekt, das Lesen wird mühsam. Was die bekannten Zutaten des Genres angeht, so sind sie allesamt zu finden. Gangster und Schlägertypen, Pistolen, die verlassenen Parkplätze, die Drohgebärden. Die Drohungen kann man geradezu mitsprechen. Nichts stört hier, man kann genüsslich mit Held und Heldin mitfiebern.

Weniger gelungen ist der Einsatz der Märchenelemente. Mit der Geschichte von Dornröschen hat das Ganze am wenigsten zu tun, der Märchenteil verkommt zur schlichten Verfolgungsjagd der Guten durch das Böse. Das Motiv der bösen Zauberin ist unoriginell, ihr Vorgehen reichlich unbeholfen, ihr Umgang mit dem, was sie »ihr Liebstes« nennt – man hat jedes Mal unweigerlich Gollums »Mein Schatz« in den Ohren – leichtsinnig. Die Verbindung, die Benkau am Ende zwischen ihr und Jarno konstruiert, um ihre Art der Magie zu erklären, gerät unfreiwillig komisch, die geplante Vollendung ihres bösen Griffs nach Klara nur noch absurd. Das ist nicht nur nicht diese Art von Märchen, wie die Autorin schreibt, es ist überhaupt keins.

Das Märchen ist das Ende des eigentlichen Romans, des Thrillers nämlich. Dessen Schrecken lösen sich so perfekt und derart paradiesisch für unser liebendes Paar, dass dabei nur eins im Spiel gewesen kann: Magie.

›Marmorkuss‹ erfüllt als Jugendbuch seine Kernaufgabe nicht, nämlich jungen Menschen etwas mitzugeben für ihr Leben. Der einzige Anspruch des Romans ist, unterhaltend zu sein. Wer das sucht, kann hier fündig werden, sollte aber eher mit einem gängigen Krimi als mit einem Märchen rechnen.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Jennifer Benkau: Marmorkuss
Bindlach: Script5 2014
430 Seiten. 18,95 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren

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