Jugendbuch | Andy Mulligan: Der zweite Kopf des Richard Westlake
Teresa Toten: Der ungewöhnliche Held aus Zimmer 13B
Sehr ungewöhnliche Helden treten in den neuen Jugendromanen von Andy Mulligan und Teresa Toten auf. Hintergrund ist in beiden Fällen ein seelisches Trauma. Während Mulligan seine Geschichte ins Fabelhafte überhöht, verweist Toten in die Metaphysik des Katholizismus. Ob Leserinnen und Leser das akzeptieren können, ist in beiden Fällen Glaubenssache. Von MAGALI HEISSLER
Richard Westlake, Titelheld des britischen Autors Andy Mulligan, ist elf Jahre alt und hat eigentlich keine Probleme, abgesehen davon, dass die Fußballmannschaft seiner Schule unbedingt ein wichtiges Spiel gewinnen muss. Als Richard statt Fußball zu spielen mit einer merkwürdigen Geschwulst am Hals ins Krankenhaus eingeliefert wird, ist er entsprechend entsetzt. Seine Eltern erschreckt etwas anderes, nämlich die tröpfchenweise durchsickernde Information, dass ihrem Sohn ein zweiter Kopf wächst. Sie haben das noch nicht annähernd aufgenommen, als der Kopf schon da ist. Der zweite Kopf sieht aus wie Richard, aber er ist alles andere als das. Er ist Rikki, selbstbewusst, vorlaut, unangepasst. Rikki sagt, was ihm gerade einfällt, laut. Er kennt keine Rücksicht und politisch korrekt ist er schon gar nicht.
Das gibt Schwierigkeiten nicht nur zu Hause, sondern bald auch in der Schule. Gefährlich wird es, als sich Wissenschaftler für Rikki interessieren. Rikki mag unangepasst sein, die Wissenschaftler sind völlig skrupellos.
Kitsch und Klischees kübelweise
Mulligan schreibt mitreißend, aber das ändert nichts daran, dass man sich nach wenigen Seiten schon fühlt, als laufe ein klassisches 50er-Jahre-B-Movie, Genre Wissenschafts-Horror ab, in Technicolor. Letzteres ist so ziemlich das Modernste, was der Autor zu bieten hat.
Der Kern der Geschichte ist Trauerbewältigung. Richard hat vor einiger Zeit seinen geliebten Großvater verloren, sein Bravsein ist nur gespielt. Tatsächlich ist er voller Wut über den Verlust. Sein zweiter Kopf fungiert als anderes Ich, das ungezogen sein darf. Ungezogenheiten sind es, nichts sonst, was Rikki herausschleudert. Sie bringen den Alltag ein wenig durcheinander, Mulligan hütet sich jedoch, an Grundsätzlichem zu rütteln. Eine leichte Verklärung des Militärs mit eingeschlossen.
Im Lauf des Geschehens ändern sich nicht nur Richards Lebenseinstellungen, sondern auch Mitschülerinnen, Freunde und Lehrer. Das bleibt leider an der Oberfläche. Die Naiven werden wach, die vorgeblich Angepassten sind im Herzen junge Wilde, die ordentlichen Chaoten. Sie dürfen sich ausleben, fein. Die Botschaft, dass in jeder und jedem neben dem Guten Böses steckt, dass alle Menschen eine wilde Seite haben, ist mehr als wohlfeil. Ob sie wahr ist, wird an keiner Stelle infrage gestellt, im Gegenteil ist diese platte Gut-Böse-Einteilung Voraussetzung für so manches in der Handlung.
Der Psychiater und seine Mittäterin sind Karikaturen, deutlich an Vorurteilen modelliert, das personifizierte Böse. Nimmt man das hin, bekommt man eine solide gebaute Geschichte voll Hochspannung, rasanter Verfolgungsjagden und haarsträubender Rettungsaktionen. Vor allem bekommt man kübelweise Kitsch und Klischees. Entsprechend sentimental ist das Ende. Nach einer metaphysischen Begegnung mit dem toten Großvater landet Richard, als neugeborener Ikarus (ausgerechnet!), glücklich einköpfig bei seinen Eltern wieder in dieser Welt.
Die Zielgruppe von Mulligans skurriler Fabel ist nicht leicht auszumachen. Ein Kinderbuch ist es sicher nicht, Jugendliche werden nicht recht glücklich sein mit einer Gruppe Elfjähriger. Am ehesten dient es der Beruhigung Erwachsener, denen wieder einmal bestätigt wird, dass die Welt zwar Beunruhigung kennt, aber unschwer ins Lot kommt, wenn sich das Individuum nur frei entfalten kann.
Batman, Liebesleid und die Hand Gottes
Die kanadische Autorin Teresa Toten hat ihrem Helden Adam gleich eine dreifache Bürde aufgehalst. Adam, gerade fünfzehn, leidet an Zwangsstörungen, er lebt in sehr problematischen Familienverhältnissen und hat sich gerade Hals über Kopf verliebt. In Robyn. Klar, dass er sich als Alter Ego für die Therapiegruppe in Raum 13B den Superhelden Batman aussucht. Der anschließende Kampf nicht nur um Robyns Zuneigung ist ebenfalls übermenschlich.
Toten schildert die Gruppe der an unterschiedlichen Zwangsstörungen leidenden Jugendlichen mit großer Anteilnahme, ohne allzu sehr in Klischees zu verfallen. Sie nimmt ihre Figuren so ernst, dass sie ihnen problemlos auch humorvoll begegnen kann. Die Schrecken ihrer Leiden werden dadurch für die Leserinnen und Leser gemildert, ohne kleingeredet zu werden. Hin und wieder geht sie allerdings zu sehr in klinische Details, Leserinnen, die sich etwa mit der dazugehörigen Medikation nicht auskennen, sind der Versuchung ausgesetzt, manches zu überfliegen.
Adams Liebesleid teilt sich beim Lesen dafür sehr unmittelbar mit. Ängste, Nöte und Sehnsüchte eines frisch verliebten Teenagers sind zwar nicht auf originelle Art gezeigt, aber das Altvertraute ist so geschickt präsentiert, dass man sich am Wiedererkennen einfach nur freuen kann. Aber nicht Liebe ist das große Thema, sondern Familie. Die Familien aller Gruppenmitglieder sind dysfunktional. Die Jugendlichen müssen damit zurechtkommen.
Adam-Batman hat bei ihnen Katalysatorenfunktion. Die Veränderung ihres Verhaltens nützt am Ende ihm am meisten, da sie den Beweis erbringen, dass man füreinander da sein muss, wenn man das Leben meistern will, innerhalb und außerhalb des klassischen Familienverbands.
Toten erzählt spannend genug, dass jüngere Leserinnen die Zusammenhänge und Hintergründe nicht sofort durchschauen. Ältere Jugendliche werden bei manchem schnell Verdacht schöpfen. Die Lösung eines wesentlichen Problems wird aber auch für sie überraschend kommen.
Hakelig und naiv
Etwas hakelig in dieser Geschichte sind zwei Motive, einmal der Umgang mit der Lüge, zum anderen das Behandeln des Katholizismus, der eine wichtige Rolle spielt.
»Alle lügen«, wird zum Leitspruch, das ist kaum geeignet für ein Jugendbuch, gerade weil er der Beruhigung und Hilfe zur Akzeptanz der Gegebenheiten dient. Die Auswirkungen der beträchtlichen Menge an Lügen, die in dieser Geschichte erzählt werden, sind überdies gewaltig.
Adam besucht eine katholische Schule und hat keine wesentlichen Probleme mit dem Glauben. Der lässige Umgang damit verursacht eher Probleme beim Lesen. Robyn möchte unbedingt katholisch werden, weil sie das so traumhaft schön findet, die anderen aus der Gruppe werden ebenfalls neugierig. Es gibt einen Crashkurs im Rosenkranzbeten, allerliebste Witze bei einer Kirchenbesichtigung und Instant-Beruhigungspillen über etwaige Schwierigkeiten innerhalb der kirchlichen Organisation in Form von »Unser Pater ist nicht so, er ist liberal«.
Besagter Pater mutiert denn auch zum verständnisvollen Übervater-cum-Kavallerie, was die Figur gleich wieder unlebendig macht. Ein glühender Vertreter der »Jeder lügt«- Überzeugung ist er ebenfalls. Dass Adams bester Freund Ben für den Pater zu »dein jüdischer Freund« wird, mag im kanadischen Zusammenhang üblich sein, im deutschen Text ist die Wirkung eher unschön, zumal das Jüdischsein an keiner Stelle eine Rolle spielt. Dass Adam beim Aufkeimen sexueller Gefühle sich die Oberin seiner Schule ins Gedächtnis ruft, um eine Sünde zu vermeiden, wird Leserinnen grinsen lassen, verstärkt aber den altmodisch-naiven Eindruck, den der Umgang der Autorin mit all diesen Themen macht.
Ganz gelungen ist dieser Roman trotz seiner reizvollen Thematik also nicht.
Titelangaben
Andy Mulligan: Der zweite Kopf des Richard Westlake
(2013 The Boy With Two Heads, übers. von Uwe-Michael Gutzschhahn)
Hamburg: Rowohlt Rotfuchs 2014
408 Seiten. 9,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
| Leseprobe
Teresa Toten: Der ungewöhnliche Held aus Zimmer 13B
(2013 The Unlikely Hero of Room 13B, übers. von Ann Lecker)
München: cbt 2014
342 Seiten, 16,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
| Leseprobe