/

Die Häutungen des Blechtrommlers

Menschen | Zum Tod des Nobelpreisträgers Günter Grass

Günter Grass war nicht nur einer der bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsschriftsteller. Er war auch über mehr als sechs Jahrzehnte künstlerischer Tätigkeit stets ein streitbarer und umstrittener Zeitgenosse. Von PETER MOHR

BlechtrommelNoch vor ziemlich genau drei Jahren hatte Grass mit seinem israel-kritischen Gedicht »Was gesagt werden muss« wieder ganz stark polarisiert. Als »notwendige Torheit« hatte er später diesen formal hoffnungslos verunglückten und auch inhaltlich fragwürdigen Text bezeichnet. Das war auch eine Facette des bedeutenden Schriftstellers: seine Impulsivität und Unberechenbarkeit.

Schon 2006 waren die publizistischen Wellen ganz hoch geschlagen, als Grass im Vorfeld der Veröffentlichung seines autobiografischen Romans Beim Häuten der Zwiebel seine SS-Mitgliedschaft nach jahrzehntelangem (Ver)Schweigen »gestanden« hatte. Das Denkmal des aufrichtigen Radikaldemokraten hatte zwar einige »moralische Risse« davon getragen, doch die Reputation des Schriftstellers Grass blieb davon unbeschadet.

Dieses schonungslos offene und durchaus selbstkritische Buch liest sich noch heute wie eine erzählerische Häutung des »Blechtrommlers« Grass. In nüchterner, unpathetischer Erzählweise blickt Grass zurück: auf Kindheit und Jugend, in denen er mit Hilfe von Klebebildern erstmals mit der bildenden Kunst in Berührung kam, auf seine späteren Verfehlungen als Jugendlicher, der von den »Helden von Narvik« berauscht war, freiwillig der Waffen-SS beitrat und der sich die Frage stellte, ob der Wirrnis seiner Tagträume ein wenig Todessehnsucht beigemengt war.

Günter Grass hatte es nicht immer leicht im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Der frühe Erfolg der Blechtrommel war mehr Fluch als Segen, über viele Jahre wurde sein international anerkannter Erstling als Vergleich herangezogen, um andere Werke zu »verreißen«. Es war zwar keine Versöhnung erster Klasse, aber seit der Nobelpreisverleihung vor 15 Jahren ging das deutschsprachige Feuilleton wesentlich behutsamer mit Günter Grass um. Der Respekt vor der bedeutendsten Auszeichnung der literarischen Welt hatte zum Einlenken geführt – auch mit dem unbequemen politischen Zeitgenossen Günter Grass.

»Ja, ich liebe meinen Beruf. Er verschafft mir Gesellschaft, die vielstimmig zu Wort kommt und möglichst wortgetreu ins Manuskript finden will. Am liebsten begegne ich meinen mir vor Jahren entlaufenen oder vom Leser enteigneten Büchern, wenn ich vor Zuhörern lese, was geschrieben und ausgedruckt zur Ruhe kam«, erklärte Günter Grass im Dezember 1999 in seiner Nobelpreisrede.

Der kleine Trommler

Wohl kaum eine andere Romanfigur aus der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur hat so große Popularität erlangt wie Günter Grass‘ Oskar Matzerath aus der Blechtrommel (1959). Der kleine Trommler, der aus Protest gegen seine Umwelt sein Wachstum vor Erreichen der 1-Meter-Grenze einstellte, der mit seinen spitzen Schreien selbst Glas zum Bersten brachte (die Verfilmung von Volker Schlöndorff mit David Bennent in der Hauptrolle war ebenfalls ein Meisterstück), dieser zwergwüchsige Rebell verkörpert auch ein wenig von Günter Grass‘ Geisteshaltung: unbequem, gegen den Strom schwimmend, Mahner und latenter Revoluzzer in einer Person.

Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren und besuchte nach einer Steinmetzlehre als Meisterschüler die Düsseldorfer Kunstakademie. Viele seiner Bücher hat er später mit eindrucksvollen Radierungen und Aquarellen illustriert. 1956 debütierte er mit bescheidenem Erfolg mit dem Lyrikband Die Vorzüge der Windhühner, ehe ihm 1958 auf der Tagung der Gruppe 47 mit einer Lesung aus der noch unvollendeten Blechtrommel der Durchbruch gelang. Mit der meisterlichen Novelle Katz und Maus (1961) und dem zweiten Roman Hundejahre (1963) erreichte Grass – gerade 36-jährig – schon früh seinen ersten literarischen Höhepunkt.

Schon zu dieser Zeit nutzte der Autor seine Popularität, um in das aktuelle Tagesgeschehen einzugreifen. In den 1960er Jahren unterstützte Grass die SPD im Wahlkampf, er war einer der Initiatoren des Verbandes Deutscher Schriftsteller, Herausgeber der Zeitschrift »L ’76« (später »L ’80«) und leidenschaftlicher Verfechter der Brandtschen Ostpolitik. Sein öffentliches Engagement hat ihm freilich mehr Feinde als Freunde beschert. So auch 1992, als sich der Skeptiker Grass auf der Buchmesse in Frankfurt zu Wort meldete und als Folge der (nach seinem Gusto) zu schnell vollzogenen deutschen Einheit eine »zweite, unbarmherzige Trennung« beklagte.

Vor allem konservativen Kreisen war Grass stets ein Dorn im Auge; seine Bücher wurden oftmals nicht nach dem künstlerischen Wert, sondern nach der »Gesinnung« ihres Verfassers abgeurteilt. Wenn gleich Grass nur noch mit dem Krebsgang (2002) an den Glanz der frühen 60er Jahre heranreichte, wurden die späteren Werke (ausgenommen die wirklich misslungenen Bücher Örtlich betäubt und Kopfgeburten) viel zu schlecht von der Kritik aufgenommen; die Rezensionen gerieten nicht selten zum peinlichen Feuilletonisten-Wettstreit um die originellsten Verrisse.

Der anscheinend so starke Autor, der in seinem Innern allerdings ein höchst sensibler Zeitgenosse war, zog sich nach Erscheinen seines Romans Die Rättin (1987/später mit Matthias Habich und Sunnyi Melles verfilmt) und der anschließenden Verrisswelle nach Indien zurück. Nach seiner Rückkehr erschien der Band Zunge zeigen. 1995 war Grass Opfer einer schlimmen öffentlichen, unter dem literarischen Deckmantel getarnten Hetzkampagne geworden. Der 21. August 1995 ist ein Datum, das Günter Grass nie vergessen hat. Es war ein Montag, der in die Geschichte einging und ein denkbar schlechtes Licht auf den deutschen Journalismus und die Literaturkritik warf.

Der »Spiegel« veröffentlichte Marcel Reich-Ranickis vernichtende Kritik des gerade erschienenen Grass-Romans Ein weites Feld. Die Kritik zielte schon unter die Gürtellinie , da sie nicht literarisch, sondern ideologisch motiviert war, aber den Gipfel der Geschmacklosigkeit bot die »Spiegel«-Titelseite mit einer Fotomontage, die den Frankfurter Kritiker zeigte, wie er Grass‘ Buch zerriss. Das Lesepublikum ließ sich von der anschließenden Verrisswelle nicht beeindrucken – das »weite Feld« wurde zu einem Bestseller.

Dem gleichermaßen empfindsamen wie impulsiven Autor Grass mangelte es oft auch an Souveränität, denn er begab sich 1997 in seinem Band »Fundsachen für Nichtleser« auf ein ebenso fragwürdiges Niveau: »Meine Kritiker/ wissen nicht, wie man das macht:/ Zaubern auf weißem Papier./ Meister, dürfen wir/ über die Schwelle treten?/ Doch selbst als Lehrlinge taugen sie wenig/ und bleiben traurig/ ohne Begriff.«

Günter Grass hat oftmals auf die Angriffe reagiert und verbale Giftpfeile aus dem Köcher gezogen, die so schrill klangen, wie einst die Schreie des zwergwüchsigen Trommlers Oskar Matzerath in der Blechtrommel. Seinen Lesern hat er es nie leicht gemacht, literarische Moden waren nie seine Sache, seine Bücher stellten sich meistens quer zum Zeitgeist und ragten wie erratische Blöcke aus dem Wust der Fast-Food-Literatur heraus. »Erst wenn wir aufgeben, den Stein am Fuß des Berges liegen lassen, wenn wir nicht mehr Sisyphus sein wollen, erst dann wären wir verloren«, heißt es in der »Rättin«. Also es ist es jetzt an uns Lesern, den Stein weiter zu Berge zu tragen und uns der Grass-Lektüre, die eben auch einer Sisyphusarbeit gleichkommt, weiterhin zu stellen.

Am Montag ist der große Schriftsteller, der geehrte Nobelpreisträger und streitbare Zeitgenosse im Alter von 87 Jahren in Lübeck gestorben.

| PETER MOHR

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein Haus aus Papier

Nächster Artikel

Diesseits des Jenseits

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Turbulence As A State Of Mind

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world An influential figure in the rise of acid house, Justin Robertson is a musician who always pushes boundaries. In doing so he can be relied upon to create music which constantly catches you by surprise. Justin Robertson’s Deadstock 33s is a relatively new alias which sees the British producer create a body of work full of twists, turns, and mesmerising grooves. By JOHN BITTLES

Folkdays… Country-Kommerz und schöne Songs

Musik | Menschen | Glen Campbell lebte bis zum Sommer 2017 Wer in den 70ern Folk, Rock und Blues hörte, stolperte auch über ›Rhinestone Cowboy‹ von Glen Campbell. Auch die Songsammlung von TINA KAROLINA STAUNER, gespickt mit Raritäten aus aller Welt, enthält den bekannten Country-Pop-Hit.

»Kafka war nie ein Käfer«

Menschen | Interview mit Urs Widmer

Der 1938 in Basel geborene und 2014 gestorbene Urs Widmer gehörte sicherlich mit gutem Recht zu den bekanntesten Stimmen in der deutschen Literatur. Eigentlich fehlte dem bis zuletzt in Zürich lebenden Erzähler und Dramatiker nur noch der Büchner-Preis. Zuletzt hatte er vor allem durch die Veröffentlichung der Zwillingsromane ›Der Geliebte der Mutter‹ und ›Das Buch des Vaters‹ für Aufsehen gesorgt. Widmer, der Germanistik, Romanistik und Geschichte studiert hatte und lange Jahre in Frankfurt lebte, erläutert in unserem wiederveröffentlichten Interview mit THOMAS COMBRINK unter anderem, wie er zu seinem eigenen, ganz unverwechselbaren Ton gekommen war und wie viel Lebenserfahrung ein Schriftsteller für das Schreiben benötigt.

Aus Widersprüchen Energie geschöpft

Menschen | Zum 75. Todestag des Schriftstellers Franz Werfel (am 26. August)

Franz Werfel war Österreicher und Prager, Jude und Christ, Konservativer und Avantgardist, traditioneller Erzähler, pathetischer Lyriker und utopischer Romancier. Aus diesen teilweise selbst auferlegten Widersprüchen schöpfte Werfel seine literarische Energie, die ihm in 35 Jahren dichterischer Tätigkeit ein ebenso erfolgreiches wie umfängliches Oeuvre ermöglichte. »Erfolg ist für mich mit Glück identisch«, erklärte Werfel, der vor allem während des Exils in den USA von vielen Kollegen ob seiner Verkaufserfolge beneidet, aber auch polemisch geschmäht wurde. So sprach Brecht etwa vom »heiligen Frunz von Hollywood, dem Geschwerfel«. Von PETER MOHR

Bleib erschütterbar!

Sachbuch | Menschen | Ausstellung | Zwischen den Kriegen: Laß leuchten!

Vor 12 Jahren starb der Dichter Peter Rühmkorf. Letztes Jahr, zu seinem 90. Geburtstag gab es eine Ausstellung in Hamburg und den Reprint seiner Zeitschrift ›Zwischen den Kriegen‹, die er in den 50er-Jahren mit Werner Riegel zusammen herausgab. Und nun, zur Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum in Marbach, ist noch ein Buch über ihn erschienen, das Marbacher Magazin. Alles zusammen sehr lesenswert. Von GEORG PATZER