Wenn die Mitte im Osten liegt

Kurzprosa | Peter Schneider: An der Schönheit kann’s nicht liegen

Ein neuer Essayband über Berlin von Peter Schneider ist erschienen. Gelesen von Peter Mohr

Schneider Schönheit»So war es denn ein Schock für uns, als wir nach dem Mauerfall entdeckten, dass die neuen Wegweiser namens ,Mitte’ unmissverständlich nach Osten zeigten«, heißt es in Peter Schneiders in sechs Teile gegliederten Essayband An der Schönheit kann’s nicht liegen«. Der Wahl-Berliner präsentiert darin eine äußerst lesenswerte Mischung aus latenter Liebeserklärung und kritischer Abrechnung mit der zusammengewachsenen Metropole.

Nicht zuletzt liefert uns dieser Band auch eine Rückschau auf politisch relevante Ereignisse und Auseinandersetzungen mit wichtigen und streitbaren Berliner Persönlichkeiten. Ein neunseitiges Kapitel hat Schneider dem langjährigen Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky gewidmet. Der umstrittene Sozialdemokrat ist während seiner Amtszeit immer wieder mit den Leitlinien Bundes-SPD auf Konfrontationskurs gewesen. »Buschkowsky ist ein Sonderfall, ein zweiarmiger Bandit, der einen jungen Anarchisten motivieren könnte, vielleicht doch eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen«, schreibt Schneider in seinem für diesen Band charakteristischen humorig-pointierten Tonfall.

Dieses Buch ist ein Muss für alle Berlin-Liebhaber und alle jung gebliebenen Querdenker. Eine poetische Zeitreise, auf der dem Wandel mit reichlich Augenzwinkern begegnet wird: »Wir haben eine Frau mit sieben Kindern, die das Verteidigungsministerium übernimmt. Wir hatten bis vor kurzem noch einen schwulen Bürgermeister, eine Frau aus der DDR als Kanzlerin. Und wir haben einen ehemaligen Pfarrer aus der DDR, der in wilder Ehe im Schloss Bellevue lebt. So eine Regierung müssen Sie mir mal zeigen.«

Peter Schneider gehörte einst zu den profiliertesten Figuren in der 68er Bewegung. Als er sich 1973 in Berlin als Studienreferendar bewarb, wurde der »Verfassungsfeind« für den Staatsdienst abgelehnt. Das Urteil wurde zwar drei Jahre später aufgehoben, doch da hatte Schneider längst keine Ambitionen mehr, in den Schuldienst einzutreten. Seine Erzählung Lenz hatte ihm 1973 – über alle politischen Grenzen hinweg – den schriftstellerischen Durchbruch beschert.

Peter Schneider, der vor 75 Jahren in Lübeck als Sohn eines Kapellmeisters geboren wurde, war stets ein politisch-engagierter Autor, ohne sich allerdings ideologisch vereinnahmen zu lassen. Mit seiner Erzählung Mauerspringer (1982) nahm er die Ergebnisse aus dem Herbst des Jahres 1989 vorweg, und sein schmaler Band Vati (1986), in dem er den Lebensweg des KZ-Arztes Mengele rekonstruierte, löste eine heftige, vom »Spiegel« initiierte Plagiatsdiskussion aus.

Schneider, der in den 1960er Jahren Reden für SPD-Politiker schrieb, der Filmdrehbücher und Theaterstücke verfasste, ist immer ein wenig gegen den Strom des Zeitgeistes geschwommen. Nach den wenig spektakulären Romanen Paarungen (1992) und Eduards Heimkehr (1999) folgte 2005 der flott erzählte Aufsteigerroman Skylla, in dem ein Alt-68er, der später als Scheidungsanwalt Karriere machte, im Mittelpunkt steht.

| PETER MOHR

Titelangaben:
Peter Schneider: An der Schönheit kann’s nicht liegen
Köln: Kiepenheuer und Witsch 2015330 Seiten.
19,99 Euro

Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ungeahnte Folgen der Wahrheit

Nächster Artikel

Immer wieder diese Zombies!

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Berlin

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Berlin

Berlin, erinnerte sich Rostock, Berlin liege gar nicht weit entfernt von seiner Heimatstadt, er habe von Bremerhaven aus den Atlantik überquert und in Nantucket ausgemustert.

So sei es vielen ergangen, sagte London, die Überfahrt war strapaziös, und an der Ostküste habe man in Nantucket gleich anheuern können, denn die Jahrzehnte des amerikanischen Walfangs brachen an.

Was es auf sich habe mit Berlin, fragte Bildoon, weshalb, die Stadt liege auf der anderen Seite des Planeten, was kümmere ihn das.

Es sei eine andere Zeit, sagte Pirelli, von Walfang sei dort keine Rede mehr.

Ramses IX.

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ramses IX.

Ramses lächelte. Sich in fremden Gegenden und Kulturen umzutun und einen Eindruck von den Menschen zu gewinnen, wem gefiele das nicht, ich schau den weißen Wolken nach und fange an zu träumen, gewiß, die Kultur der Industriegesellschaft sei hochentwickelt, überlegte er, über alle Maßen leistungsbezogen und bestehe doch erst seit wenig mehr als zwei Jahrhunderten, man müsse das anerkennen, die Bevölkerung wachse immens, und es entstünden Ungleichgewichte.

Der Anwalt der Schwachen

Kurzprosa | Erich Hackl: Dieses Buch gehört meiner Mutter | Drei tränenlose Geschichten Es gibt zwei neue Bücher des Schriftstellers Erich Hackl: ›Dieses Buch gehört meiner Mutter‹ und ›Drei tränenlose Geschichten‹ sind beide im Schweizer Diogenes Verlag veröffentlicht. Von PETER MOHR

Der jugendliche Camus

Menschen | Abel Paul Pitous: Mon cher Albert Wird Albert Camus noch gelesen? Die Pest? Camus stand stets im Schatten von Jean Paul Sartre. Oh, sie begründeten die Tradition der schwarzen Rollkragenpullover, dafür sei beiden gedankt, Camus kam leider früh zu Tode. Der hier veröffentlichte Brief fand sich im Nachlass des 2005 verstorbenen Abel Paul Pitou, eines Jugendfreundes von Camus, und wurde 2013 von dessen Sohn zur Veröffentlichung gegeben – die unscheinbarsten Manuskripte erreichen die Welt auf den kompliziertesten Pfaden. Pitous und Camus spielten in diversen Schulmannschaften gemeinsam Fußball, das verleiht dem Text spezielle Würze in diesem Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft.

Große Mauer

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Große Mauer Diese Lokalität sei hervorragend auf Besucher eingerichtet, lobte Ramses und blickte einem Schatten hinterher, der die Konturen Gramners besaß, und daß dies eine einmalige Gelegenheit sei, sagte er, diese Hinterlassenschaften ruhmreicher fernöstlicher Dynastien kennenzulernen. Der Flug, fügte er hinzu, sei überaus angenehm gewesen, auch das ein Wunder, er hätte sich nie träumen lassen, daß der menschliche  Körper sich zum Himmel erhebe, nie im Leben, das sei eine vortrefflich inszenierte Illusion.