Stichwunden

Liter Ratur | Wolf Senff: Stichwunden

…dreiundzwanzig, wer zählte sie? Antonius? Lief er kreuz und quer im Getümmel, die Einstiche zählend, die Schwerter, die Dolche, wie stellen wir uns das vor?

Portrait_of_Julius_Caesar_(color)Zu sechzig seien sie gewesen, das sei richtig, behauptet mein Bruder. Zwar lebt er in einem Vorort von Leipzig, doch es ist gut möglich, dass er mit dabei war, er ist häufig in Rom, er trinkt gern ein Gläschen Rotwein, und wenn es dann einmal darum geht, die Verhältnisse aufzumischen, kennt Joachim kein Halten. Außer dem beträchtlichen zeitlichen Abstand gibt es nichts, was gegen die Anwesenheit meines Bruders spräche.
Nein, er wird nicht gewusst haben, um was es ging, er war eben gern unter Menschen. Wäre er nüchtern gewesen, ich weiß nicht, ob er sich beteiligt hätte, denn sechzig auf einen ist unverhältnismäßig. Hinzu kommt, dass viele nicht den Mumm aufbrachten, zuzustechen. Wenn es darauf ankommt, ist selten Verlass auf die Leute.
Die Einstiche wurden gezählt, ja, doch auch das erscheint Joachim im Rückblick dubios. Wann soll das geschehen sein? Sofort nach der Tat? Antonius hielt wenige Tage später eine Rede, mit der er das Volk aufwiegelte, oh, oh, das ging nicht mit rechten Dingen zu, er führte die Einstiche an einem Torso aus Wachs vor, stilvoll inszeniert. Da wird Joachim unter den Zuhörern gewesen sein und spätestens jetzt plagten ihn Zweifel.
Sei denn, fragte er sich, jeder Schnitt gleich eine Stichwunde? Wie wolle einer überhaupt zählen, während die ersten das Weite suchen, um die Sensation zu verbreiten. »Haltet ein, stop, ich will zählen!«, und alles hielte still? Nein, so klappt das nie, die Lage war völlig unübersichtlich gewesen, wer käme darauf, die Einstiche zu zählen, das ist doch krank.
Er soll noch geredet haben, »Et tu, Brute!«, Teil der Legende, die man überliefern würde, sei’s drum, meistens werden nichts als Legenden überliefert. Oder war das nicht eher doch im Film oder einem der Dramen geschehen, die aufgeführt wurden. ›Dreiundzwanzig‹ hätte ein Titel für das Großbuchstabenblatt sein können.
Wie alt er gewesen war? Sechsundfünfzig, seine Gesundheit war seit Jahren angegriffen, die Verdauung bereitete ihm Probleme, das war den Konsuln und Senatoren bekannt, sogar Joachim wusste davon. Calpurnia träumte unruhig und suchte ihn zurückzuhalten, außerdem hatte er Spurinna konsultiert, der ihn, so überliefert Plutarch, ausdrücklich vor den Iden des März gewarnt hatte, so stricken Medien Heldengestalten, die die Jahrhunderte überdauern.
Caesar muss etwas gewusst haben, jemand wird ihm die Pläne verraten haben, bei sechzig Attentätern, so geschwätzig, so feige, ist das unvermeidlich. Das Attentat spielte sich in einem heillosen Durcheinander ab, der erste Stich war ängstlich geführt und keineswegs tödlich, Caesar spürte den Schmerz, und Joachim wird verfolgt haben, wie er sich empört gegen Casca wandte, einen Angsthasen, der vor Aufregung zitterte und nun den eigenen älteren Bruder zu Hilfe rief.
Dann griffen die übrigen zu den Schwertern und Caesar wurde in einem Rausch des Mordens niedergemetzelt. Ich nehme einmal an, dass Joachim in vorderster Reihe war. Wenn er getrunken hat, wird er aggressiv, man darf ihm keinen Alkohol geben. In den Geschichtsbüchern finden wir das Geschehen geglättet, da ist Sinn gestiftet und die erwünschte Ordnung hergestellt.
Außerdem bleibt unerklärlich, weshalb Caeser überhaupt an diesem Tag so entschieden den Senat aufsuchte, so dringend waren die Angelegenheiten nicht, denn für den Krieg gegen die Parther war alles vorbereitet, sechzehn Legionen standen auf Abruf, binnen drei Tagen hätte er abreisen können, der Mittlere Osten, wir wissen das, ist jederzeit heiß umkämpft.
Sogar Cicero hielt das Attentat für unnötig, eine Farce, schrieb er, da Caesar, die Götter wüssten es, nie und nimmer nach Rom zurückgekehrt wäre, sein Gesundheitszustand war jetzt schon mitleiderregend und der Krieg ein größenwahnsinniges Unterfangen.
Der Mord wird sich rasend schnell herumgesprochen haben unter denen, die es betraf. Antonius war so pragmatisch, noch in der Nacht den Staatsschatz an sich zu bringen, so viel Zeit musste sein, die Bürger der Stadt gingen ihren täglichen Geschäften nach, wer hat Mitgefühl mit den Machtkämpfen der Herrschenden, was spielt sich ab, und unverzüglich tun sich die Interpreten hervor, die eifrig sortieren und glätten.
Rache für Crassus, tadelt Cicero, sei Caesars Motiv gewesen für den Feldzug gegen die Parther, Operation Desert Storm. Die erwähnten Legionen standen auf Abruf in Makedonien und Griechenland, in Illyrien, Pontos, Bithynien, Ägypten, und weitere zehntausend Reiter und Hilfstruppen sollten aufgeboten werden, doch der parthische Krieg fand nun aufgrund der veränderten Lage nicht statt.
Laut Cicero wandte bereits Cato ein, dass seinerzeit Crassus den Euphrat ohne alle begründete Veranlassung überschritten habe, und außerdem, wem sei eine Eroberung des Ostens dienlich, die Verhältnisse im Mittleren Osten seien zu allen Zeiten unberechenbar, eine Okkupation sei in diesen grenzenlosen Regionen nicht dauerhaft organisierbar, und Caesar habe allein der Gedanke getrieben, Crassus zu rächen, weitergehende Pläne hatte er nicht, ach die Politik der Mächtigen erweist sich als lächerlich. Nie hat ein Eroberer weiterführende Pläne, stets noch öffnet der gefeierte Triumph die Tore zum Elend.

| WOLF SENFF

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