Bühne | William Shakespeares ›Romeo und Julia‹ im Staatstheater Nürnberg
Theodor W. Adorno lehnte es in seinen Vorlesungen zur Ästhetik ab, William Shakespeares ›Romeo und Julia‹ als Tragödie zu interpretieren, die den Übergang von der mittelalterlichen zur bürgerlichen Liebe markiere, da die Ära der Bürgerlichkeit mit noch viel mehr erotischen Tabus versehen sei. Dennoch hat Shakespeare auch den modernen Menschen kreiert. Das dachte sich wohl auch der Regisseur Johannes von Matuschka und inszenierte das Drama in Nürnberg als amerikanisches Wildwestschauspiel – also im fluiden Übergang von Wildheit und Zivilisation. PHILIP J. DINGELDEY hat sich die Premiere von ›Romeo und Julia‹ im Staatstheater Nürnberg angesehen.
Die rivalisierenden Klans, die Capulets und Montagues, sind in diesem Stück ökonomische Konkurrenten: Die Montagues leiten eine Kohlmine, und die Capulets investieren in neue Energien, wodurch die Montagues auch von ihnen abhängig sind. So datiert Matuschkas Version zwar den Beginn der Zivilisation und Stromgewinnung, jedoch befinden wir uns immer noch in der prästaatlichen Zeit Amerikas, sodass bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, zwischen den Familien, die mafiöse Strukturen annehmen.Das Stück, der heimlichen Liebesbeziehung und Heirat von Romeo Montague, gespielt von Julian Keck, und Julia Capulet, dargestellt von Henriette Schmidt, hat Matuschka nicht aufgebrochen: Der klassisch-dramatische Ablauf bleibt erhalten, von der Liebe auf den ersten Blick, über die geheimen Affäre und dem Tod von Mercutio und Tybalt, bis zum gemeinsamen Suizid des Paars, basierend auf einem Missverständnis; die Handlung wird kaum abgewandelt.
Fürsorgliches Ungetüm
Dennoch hat er einige wenige experimentelle oder postdramatische Elemente in die Inszenierung eingebaut: Der Einsatz von elektrischem Licht verdeutlicht etwa den Konflikt zwischen den Klans, und die Kostüme sind lediglich am Wilden Westen orientiert, gemischt mit heutiger Kleidung, die die Protagonisten teils lächerlich wirken lassen. Lady Capulet, gespielt von Julia Bartolome, laviert optisch hin und her, zwischen reicher Hausfrau im Leopardenlook und Prostituierter. Prinz Paris, personifiziert von Stefan Lorch, trägt vergoldete Arbeiterhemden, die zwar seinen überlegenen Status demonstrieren, aber ihm gleichzeitig der Peinlichkeit preisgeben. Und Romeo sieht schließlich eher aus wie ein Hipster-Hampelmann. Zwei krasse Diskrepanzen generiert das Stück durch den Gebrauch stark obszön-sexistischer moderner Sprache, gegossen in Versmaß und in schlechte Wortwitze, denn erstens wechselt sie sich mit der Shakespearesprache ab, und lässt diese umso verfremdeter erscheinen; und zweitens zeigt sich so eine noch größere Differenz zwischen dem banalen Sexismus aller Akteure und der dadurch umso utopischer gerierten Romantik von Romeo und Julia.
Besonders gut spielen die Capulets in dieser Inszenierung: Das Familienoberhaupt, dargestellt von Michael Hochstrasser, agiert grandios als speiendes, cholerisches Ungetüm, das gleichzeitig seine Familie umsorgt, sofern folgsam. Am wandlungsfähigsten und auffälligsten ist aber die Darbietung der Julia: Schmidt gelingt es, sie einerseits kindlich naiv zu spielen, etwa als kleines Mädchen, das sich wie ein verzweifeltes Klammeräffchen an ihren Vater hängt, und sie andererseits als frühreife Liebesrebbellin zu personifizieren, die bis in den Tod geht, immer voller Emotion. Leider passiert dabei etwas, was im experimentellen Theater unterlassen werden sollte: Julia wird zur Identifikationsfigur, die weniger hinterfragt wird, als andere Protagonisten. Damit spielt Schmidt in diesem Stück am besten und gleichzeitig am uneffektivsten von den Schauspielern.Keine Kapitalismuskritik, nirgends
Die Idee der Wildwesttragödie ›Romeo und Julia‹, als Angehörige zweier konkurrierender Familienunternehmen, hat viel Potenzial – Potenzial, das aber leider in dieser Inszenierung nur partiell ausgeschöpft wird: So erläutert nur Paris kurz am Anfang, dass es in diesem Konflikt nur darum ginge, wer mehr Gewinn erziele. Ansonsten wird der ökonomische Kampf nicht mehr thematisiert, nur der klassische reziproke Hass der Klans. Auch ein Klassenkampf wird nicht impliziert. Wo sind die in der Kohlemine schuftenden Arbeiter, die die Beziehung zwischen den reichen Kindern kommentieren und verfremden? Wo ist die Kapitalismuskritik? Wo ist der Überlebenskampf der Firmen? Auch wird lediglich angedeutet, und nie expliziert, wie wenig Romantik in dieser vom (Früh-)Kapitalismus dominierten Welt möglich ist, in der Liebe an den sozioökonomischen Antagonismen zerbrechen muss.
Insgesamt gelingt es Matuschka, die größte Liebesgeschichte der Welt neu zu adaptieren, mit einem schlichten, geringfügig abstrakten, aber effektiven Bühnenbild, das schnell Saloons, Balkonen und Kohleminen variieren kann. Leider bricht er größtenteils das Stück nicht auf, unterzieht den schon antiken Ovidschen Topos nicht der gegenwärtigen Sozialkritik und verfremdet nicht genug. In der Wildwestversion ist nicht viel Neues zu sehen! Ein schneller, machiavellisch anmutender Überraschungseffekt gelingt am Schluss aber dennoch: Nach dem Suizid des Liebespaars erschießt Paris verzweifelt – konträr zu Shakespeares Originalversion – beide Familien, denn nur so lässt sich Ordnung schaffen, nur so lässt sich eine neue Friedensgesellschaft errichten, wenn die repressiven politisch-ökonomischen Zustände (an denen Paris aber nicht unbeteiligt ist) aus den Weg geräumt sind.| PHILIP J. DINGELDEY
| Fotos: MARION BÜHRLE
Titelangaben
William Shakespeare: Romeo und Julia
Staatstheater Nürnberg
Romeo: Julian Keck
Julia: Henriette Schmidt
Regie: Johannes von Matuschka
Termine
Juni:
Do 04.06.2015, 19:00 Uhr
Fr 05.06.2015 19:30 Uhr
Di 09.06.2015 19:30 Uhr
So 14.06.2015 19:00 Uhr
Do 18.06.2015 19:30 Uhr
Sa 27.06.2015 19:30 Uhr
Juli:
Sa 04.07.2015 19:30 Uhr
So 05.07.2015 19:00 Uhr
Mi 08.07.2015 19:30 Uhr
Do 09.07.2015 19:30 Uhr
Sa 11.07.2015 19:30 Uhr
Do 16.07.2015 19:30 Uhr
Sa 25.07.2015 19:30 Uhr