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Im Brennpunkt: Putin

Gesellschaft | K.Gloger: Putins Welt / M.Sygar: Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin / W. Laqueur: Putinismus. Wohin treibt Russland? / H.Seipel: Putin. Innenansichten der Macht

Das ist so eine Sache mit dem Bild, das der Westen sich vom russischen Staatspräsidenten zurechtlegt. Niemand kennt ihn persönlich, aber jeder weiß, um was es geht, alle reden mit und alle reden reichlich, Katja Gloger, Redakteurin beim ›Stern‹, durfte ihn eine Zeitlang begleiten. Von WOLF SENFF

Einmal trug es sich zu, daß sie ihm gegenüber saß, und seine Worte klangen in Frau Glogers Ohr »merkwürdig hohl, gestanzt, irgendetwas stimmte nicht«. Oh weh, sie schreibt Literatur? Soll sie. Der Mann bleibt ihr ein Rätsel? Egal, sofern nur seine Politik Sinn ergibt. Wir werden sehen. Während der vergangenen Monate erschienen vier umfangreiche Publikationen über Wladimir Putin.

Nach Naomi Kleins Arbeit über den ›Katastrophen-Kapitalismus‹ hatte man zwar den Eindruck, die Leistung Wladimir Putins könne allmählich realistisch eingeschätzt werden. Dann aber setzte, wir erinnern uns, im Kontext des Ukraine-Konflikts ein allseitiges mediales Putin-Bashing ein, dem jedoch nach und nach die Luft ausging, den Großbuchstaben geht immer die Luft aus.

Hyperaktiv

PutinsWeltNach und nach scheint sich politisch die Einsicht durchzusetzen, dass der russische Staatspräsident, was internationale Konflikte angeht, ein ernsthafter Verhandlungspartner ist bzw. dass er, was auch immer man von ihm halte, als ein solcher zu behandeln sei. Einige internationale Großköpfe sind sogar bemüht, Gräben zu überwinden und Positionen behutsam anzunähern, es ist eine komplizierte Materie, der Widerstand bleibt beharrlich, angeführt von extrem rechtslastigen Kreisen um die Tea Party der USA.

In dieser Situation präsentiert Katja Gloger uns ein Werk über Wladimir Putin, das in Boulevard-Manier mit ›einfühlsamer‹ Schilderung seiner Jugend einsetzt. Er war ein »hyperaktives Kind, offenbar unterfordert«, er konnte »nicht still sitzen«, auf den speziellen Klang seiner Worte im persönlichen Gespräch wurde hingewiesen.

Neues aus dem Sommerloch

Anstatt des menschelnden Einstiegs à la »Putin verstehen« hätte eine Darstellung von Fakten einen sachdienlichen Überblick verschafft, etwa die Leistungen im Überwinden des ökonomischen Desasters unter Boris Jelzin. Auch dafür, dass Wladimir Putin von 2008 bis 2012 nicht als Präsident regierte, wird eine plausible Erklärung nicht für erforderlich gehalten.

Personalisierungen sind stets durch Sympathie oder Antipathie geprägt, sie trüben den Blick auf politische Sachverhalte, deshalb gehören sie in die Sommerloch-Schublade. Wir finden diesen unerfreulichen Stil ebenso in einer Publikation Michail Sygars, bei dem Alexander Woloschin – er leitete bis 2004 die Präsidialverwaltung und organisiert den Aufbau eines internationalen Finanzzentrums in Russland – zunächst stellvertretend für Putin personalisiert wird.

Vom Kampf zwischen Männern

Woloschin sei »graue Eminenz«, »Chefstratege des Kreml«, der »heimliche Weltenlenker«, und dann geht’s ab ins Dämonische, ins Unheimliche; er habe »einen harten, kalten Blick« und »stottert gar ein wenig«. Wer eine seriöse Darstellung erwartet hat, legt so etwas blitzschnell beiseite, und es bleibt höchstens interessant, zu fragen, welchem Zweck solch eine Darstellung dient. Michail Sygar ist Chefredakteur des oppositionellen russischen TV-Senders Doschd und deshalb von vornherein in politische Interessen eingebunden – aber weshalb tut er sich (und uns) diese gehässige Schreibe an?

Putin MetamorphosenSygar stellt Politik als Kampf zwischen Männern dar, er erzählt detailreich vom Personal und Geschehen der vergangenen fünfzehn Jahre, ein Wjatscheslaw Wolodin etwa spreche »kaum noch mit Journalisten« und »gilt als sehr nachtragend«. Da erweckt einer den Eindruck, er wisse Bescheid.

Von kulturellem Niveau

Er konstatiert Wladimir Putins Wandlungen von »Putin Löwenherz« bis zum heutigen »Putin der Schreckliche«, der übrigens weniger er selbst sei, sondern das Produkt seiner Berater. »Dutzende, ja Hunderte Menschen zerbrechen sich tagaus, tagein die Köpfe darüber, welche Entscheidungen Wladimir Putin fällen soll«. Ist das schlimm? Nennt sich das auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans vielleicht ›Think Tank‹? Nicht so wichtig. Michail Sygars Arbeit ist, wie man den kurzen Hinweisen leicht entnimmt, amüsant, unterhaltsam und leider wenig sachdienlich.

Bleiben wir bei Katja Gloger, die von der »Bilderbuchkarriere« einer Russin schwärmt, die die Sendung ›Russia’s next Top Model‹ sowie ›Haus-2‹, die russische Version von ›Big Brother‹, moderiert. Offenbar hält Katja Gloger das für ein kulturelles Niveau, das in Russland schmerzlich vermisst wurde.

Von Blut und Barbarei

In ihren politischen Einordnungen übernimmt sie die westlichen Sprachregelungen, etwa wenn sie von einer bloß »angeblichen Einkreisung, gar Bedrohung [Russlands] durch die NATO« spricht und die »Annexion« der Krim konstatiert, eine politisch umstrittene Formulierung, denn die Bewohner der Krim sprachen sich in einer Abstimmung bekanntlich mit überwältigender Mehrheit für eine Eingliederung nach Russland aus. In ihrer ausführlichen Darstellung der Ereignisse des Maidan übernimmt sie die Version von USA und NATO, von Aktivitäten der CIA ist an keiner Stelle die Rede, das ist schon alles sehr merkwürdig zu lesen. Geschichtsklitterung wäre hier das treffende Wort.

In einer anderen Liga spielt Walter Laqueur, die Unterschiede sind augenfällig. Wir bleiben jedoch ein Weilchen bei unserer Boulevard-Journalistin, die in naiver Selbstverständlichkeit die Äußerung Putins abstreitet, dass die Politik des Westens »zu Barbarei und Blut geführt« habe.

Last not least die USA

Wie kann man das noch kommentieren. Katja Gloger scheint die verheerenden Kriegszüge gegen Vietnam, gegen den Irak, gegen Libyen mal gerade nicht auf dem Schirm zu haben, sie präsentiert dem Leser ein krass einseitiges Russlandbild, das offensichtlich dazu dient, den Mief des Kalten Krieges mit Frischluft zu versorgen, die ›Tea Party‹ lässt grüßen.

Nüchtern betrachtet, ist es auch keine originelle Erkenntnis, dass eine hochgradig zentralisierte, auf eine Person zugeschnittene »gelenkte Demokratie« von Nepotismus und Korruption begleitet wird, das wissen wir aus China mit seinen alle paar Jahre auflebenden Anti-Korruptions-Initiativen. Nepotismus und Korruption könnte man zweifellos, hätte man entsprechendes Material von Whistleblowern zur Verfügung, für Saudi-Arabien und diverse andere Staaten nachweisen, last not least für die USA.

Schwarzweiße Welt I

Nein, ›Putins Welt‹ kann man nicht zur Lektüre empfehlen. Aber aufschlussreich ist, die Scheuklappen der Naivität aufzudröseln, die dem Blick einer, wie man hört, renommierten und angeblich urteilssicheren Journalistin so enge Grenzen setzen.

Sie erklärt die spätestens seit 2014 zutage liegende Wirtschaftskrise zutreffend mit der seit der Weltfinanzkrise 2008/09 stagnierenden russischen Wirtschaft, den plötzlich fallenden Ölpreisen und den Sanktionen westlicher Staaten, sie beschreibt den Rückfall in einen strikten Nationalismus und nennt ihn dann mutig Russlands »Konterrevolution gegen die Moderne«.

Kopfschüttelnd fragt sich der Leser, wie jemand ›die Moderne‹ als Nonplusultra oder auch nur als maßgeblichen Standard einordnet, während, aktuelles Beispiel, ein multinationaler Fahrzeugproduzent Regierungen und Millionen Bürger hintergeht, gesetzliche Grenzwerte ignoriert und die Luft verseucht, die wir atmen, und, auch dies höchst aktuell, Großbauprojekte wie BER oder Elbphilharmonie die öffentlichen Haushalte plündern. Von der mafiösen Welt des Fußballsports ganz zu schweigen. Katja Gloger scheinen die Maßstäbe abhanden gekommen zu sein.

Schwarzweiße Welt II

Egal, es geht ihr um Schwarz-Weiß-Malerei, nach und nach werden neue Bereiche aufgeblättert, die zur Dämonisierung Wladimir Putins beitragen, etwa seine Unterstützung für rechtsradikale und amerikafeindliche europäische Bewegungen und Parteien, oder die russischen Kräfte, die eine Abwendung von Europa und eine eigene eurasische Orientierung forcieren wollen.

Walter Laqueur, auf den wir noch zu sprechen kommen, erwähnt ebenfalls diese Strömungen, er beschreibt ausführlich den Einfluss der Schriften des zweifelhaften Ideologen Ivan Ilyin, deutet aber mit diplomatischer Zurückhaltung auf Fehler westlicher Politik und fragt, ob es »zwischen 1989 und 1991 eine reale Chance gegeben [hätte], Russland in den Westen zu integrieren, wenn dieser mehr Voraussicht, Großmut im Sieg und größere Kompromissbereitschaft bewiesen« hätte.

Schwarzweiße Welt III

Propaganda per ›Russia Today‹ sei, nun wieder unsere deutsche ›Stern‹-Journalistin, das Beispiel »der neuen russischen Realität der Lügen, Halbwahrheiten, Verdrehungen und Verschleierungen«, es herrsche Informationskrieg, »geführt gegen: jeden von uns« – dramatisches Tremolo, und ›wir‹, die Guten, das sind dann vermutlich die USA, Fox News, medialer Mainstream etc. Schade, dass Katja Gloger außer Schwarz-Weiß-Malerei nichts einfällt.

Als außenpolitischer Akteur trete Putin teils sich anbiedernd, teils undurchsichtig, wechselhaft auf, ein Schurke halt, als jeweilige Zäsuren nennt sie die Luftangriffe auf Belgrad im Kosovo-Krieg vom März 99, die NATO-Beitritte osteuropäischer Länder, Pläne Georgiens, der Ukraine sowie den Irak-Krieg 2003. Seine Leitlinie sei, politische Stärke zu zeigen – Welcher Politiker täte das nicht? –, und zwischen den Zeilen klingt stets der Vorwurf persönlicher Eitelkeit und übermäßigen Geltungsbedürfnisses an, auch das wären keine Putinschen Alleinstellungsmerkmale.

Was ist los mit den Deutschen?

›Putins Welt‹ wiedergeben zu wollen, las sich von vornherein poetisch. Über Politiker werden im Normalfall Analysen und Darstellungen ihrer Politik verfasst, oder wir lesen ihre Biografien. Titel wie ›Kennedys Welt‹, ›Kohls Welt‹ sind da eher nicht geläufig

Die bereits erwähnte seriöse Publikation zu Wladimir Putin erschien bei St. Martin’s Press in New York. Walter Laqueur, ein langjähriger amerikanischer Historiker und Publizist, äußerte sich bereits zu »The End of the European Dream and the Decline of a Continent« (2012) sowie zu »Was ist los mit den Deutschen?« (1988).

›Vertikale Machtstruktur‹

Seine Arbeit über Putin ist übersetzt und liegt in deutscher Sprache vor. Laqueur bemüht sich um ein erklärendes Verständnis der Entwicklung, anstatt sie zu diffamieren, er deutet an, dass die kurze Zeit Gorbatschows den westlichen Interessen weit entgegengekommen sei.

Im Endeffekt unterscheidet sich Laqueurs Arbeit in einigen zentralen Punkten dennoch nicht grundlegend von den zwei anderen. »Der Putinismus, wie man«, so Walter Laqueur, »das heutige Herrschaftssystem auf den Begriff bringen könnte, basiert auf einem autoritären Regime, das die Interessen verschiedener Gruppen der russischen Gesellschaft berücksichtigt. Die […] vertikale Machtstruktur bedeutet einfach, dass Befehle von oben nach unten erteilt werden«.

Ach die aufgeregten ›Mädels‹

PutinismusLaqueur beschreibt ein aufgrund vielfältiger Ursachen instabiles Verhältnis zwischen dem Westen und Russland, über das man »in den kommenden Jahren noch viel diskutieren« werde, und zitiert Sergej Karaganow, Vorsitzenden des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten, der davon spricht, dass die russische Politik »die Beziehungen zum Westen für lange Zeit belasten« werde.

Darin liegt der maßgebliche Unterschied. Michail Syger und Katja Gloger beschwören Bedrohungsszenarien, sie dämonisieren missliebiges Personal, wie es unsere zur Genüge bekannten Großbuchstabenerzeugnisse tun – Saddam Hussein und Gaddhafi lassen grüßen –, sind bisweilen aufgeregt wie Mädels auf dem Schulhof und tragen allzu wenig zu einem sachlichen Verständnis bei. Der Ton, man weiß es doch, macht die Musik.

Noch einmal Putin

Walter Laqueur schreibt sachlich und nüchtern, er weist im englischen Untertitel, »Russia and its Future with the West« (gelegentlich drängt sich die Frage auf, nach welchen Gesichtspunkten übersetzt wird), auf die unerlässliche Notwendigkeit zu einer, wie es während des Kalten Krieges formuliert wurde, friedlichen Koexistenz hin. An dieser Notwendigkeit hat sich trotz manchen Störfeuers nichts geändert.

Als vierte Publikation zum Thema Putin – nach dem erklärten Putingegner Sygar, der mit der Tea Party sympathisierenden Katja Gloger und dem von jenseits des Ozeans distanziert herüberblickenden Walter Laqueur – nun zur Putin-Darstellung Hubert Seipels, der laut SPIEGEL »einen Zugang zu Putin wie kein zweiter westlicher Journalist hat«.

Ein übel riechender Nebel

Er verspottet die Arroganz und Überheblichkeit westlicher Journalisten. Wladimir Putin werde dargestellt als »einer, der die Zeichen der Zeit offenkundig nicht verstanden hat, aber doch irgendwie so bedeutend ist, dass man nicht umhin kann, über ihn zu schreiben, und unsere Politiker zähneknirschend mit ihm reden müssen«. Klare Worte, und folgerichtig stehe Wladimir Putin »im Westen unter Generalverdacht, nur Übles im Schilde zu führen«.

Putin InnenansichtenHubert Seipel versteht, wie wichtig es ist, den Schleier beiseite zu ziehen, den übel riechenden Nebel aufzulösen, der hierzulande mit der Dämonisierung des russischen Staatspräsidenten einherkommt. Er erinnert an die heftigen inländischen Debatten um die Glaubwürdigkeit der Medien und positioniert sich damit, anders als Katja Gloger, auf neutralem Terrain.

»Unterstützung der Zivilgesellschaft«

Er zeigt sich ironischerweise zunächst als Merkel-Versteher und verweist auf den mit Merkels Politik verbundenen ›regime change‹, Merkels durch nichts zu erschütterndes Vertrauen in die USA, mit dem sich ein besonderes deutsch-russisches Verhältnis, wie es unter Gerhard Schröder gepflegt wurde, erledigte. Die Schlussfolgerung, dass damit auch Europa erheblich an politischem Einfluss verliert, überlässt er dem Leser.

Jedenfalls belegt er äußerst überzeugend, dass die Verschiebung der Grenzen von NATO und EU nach Osten eine Fehlentscheidung war, »von Angela Merkel gefördert und am Schluss abgesegnet«, und andererseits die – angesichts der Fakten, der Wahlausgänge und der Popularität Wladimir Putins – durchaus lächerliche »Vorstellung zahlreicher westlicher Politiker und Journalisten, in Moskau als Entwicklungshelfer unterwegs sein zu müssen«, und weist darauf hin, dass die USA im Jahr 2012 neun Millionen Dollar zwecks Unterstützung oppositioneller Gruppen in den russischen Wahlkampf investierten, in den Worten der Außenministerin der USA, Hilary Clinton, heißt das »Unterstützung der Zivilgesellschaft«.

Homosexualität & ›Mösenaufstand‹

Der Eindruck ist nicht falsch, dass mit Informationen gezielt Politik gemacht wird. Weshalb verschweigen die anderen Autoren solche Fakten wie die Rückkehr des im Westen hochgeschätzten Alexander Solschenizyn in seine russische Heimat, nachdem er siebzehn Jahre in den USA und im Exil gelebt hatte? Von seinen lobenden Worten über Putin erfahren wir ebenfalls nichts.

Diverse innenpolitische Aufreger, etwa die Registrierungspflicht für politisch tätige NGOs, die Debatte um Homosexualität, die Hysterie um Pussy Riot, der westliche Bohei um die Winterspiele von Sotschi erweisen sich bei Hubert Seipel im Rückblick als neurotisch, aufgeheizt durch hiesige Großbuchstabengezetten, wie alle propagandistische Auseinandersetzung sachlich nicht haltbar.

Vom »Bereicherungscoup der Oligarchen«

Wir dürfen das als Beseitigung der übel riechenden Nebel ablegen, und geben einem ehemaligen Bundespräsidenten recht, dass derjenige, der mit dem Finger auf andere zeige, nie vergessen möge, dass drei Finger derselben Hand auf ihn zurück verweisen. In dieses hübsche Bild passt der Hinweis, dass Putins Jugend sich sehr viel sachlicher darstellen lässt als es bei Katja Gloger geschah. Die angezeigten vier Darstellungen Wladimir Putins zu rezensieren und einander gegenüberzustellen, erweist sich in vielerlei Hinsicht als ein Augenöffner.

Erfrischend detailliert führt Hubert Seipel uns die Jahre unter Boris Jelzin als einen, mit Worten von Joseph Stiglitz, »Bereicherungscoup der Oligarchen« vor Augen – Boris Beresowski, Roman Abramowitsch, Michail Chodorkowski u. a. boten bis zu ihrem Scheitern auf ihre individuelle Weise eine spezielle Innenansicht der Macht. Wir lesen auch in diesen Abschnitten eine überaus sachliche Darstellung ohne jede oberlehrerhafte oder gehässige Attitude, sie ist über diverse Abschnittte spannend erzählt.

Weiterführende Fragen

Seipel ist einfach anders, man liest ihn gern. Er präsentiert sich nicht als Bescheidwisser und serviert keine Klischees wie ›kaltblütiger Machtpolitiker‹, ›durchsetzungsfähig‹, sondern mal andersrum, er erklärt uns, weshalb Wladimir Putin in seinem Umfeld geschätzt wurde. Ein naheliegender Gedanke, oder? Schließlich ist er als Politiker in seinem Land beispiellos erfolgreich, an Beliebtheit bei seinen Wählern übertrifft er locker die Marge, die das komplette westliche Führungspersonal bei den Wählern erreicht.

Ach, es ließe sich hier an einige weiterführende Fragen denken, etwa an die, weshalb in den hiesigen Medien gar nicht über verschiedene Gesellschaftsmodelle debattiert wird, und zwar, so wie es sich bei Seipel darstellt, und zwar höchst interessant darstellt, die Frage, welche Rolle der Staat einnehmen soll.

Blaupause für die Ukraine

Soll er, westliches Modell, weiterhin zurückgedrängt werden bzw. sogar als ›failed state‹ als eine frei nutzbare Operationsbasis für Konzerninteressen verfügbar sein? Oder soll er, russisches Modell unter Putin, die Geschicke der Nation aus eigener Kraft lenken? Man fragt sich, weshalb unsere ›freien Medien‹ sich ausgerechnet in solchen existentiellen Fragen ein Schweigegebot auferlegen.

Seipel schildert, wie sich Putin mit klarer, zielorientierter Politik gegen die »Schwergewichte der Wirtschaft« durchsetzt, er erwähnt Putins Überzeugung, »dass militärische Mittel offenkundig die Sprache sind, die der Westen versteht, wenn es darum geht, die eigenen russischen Interessen klarzumachen«. Der Konflikt um Südossetien sei als eine Blaupause für den Ukrainekonflikt zu verstehen.

Ob wir zur Besinnung finden?

Der georgische Staatspräsident Saakaschwili, der den Konflikt angezettelt hatte, sei in die USA emigriert und werde von den Behörden seiner einstigen Heimat strafrechtlich verfolgt. Doch offenbar – wo Männer noch Männer sind – sitzt sein Drang nach Vergeltung tief, zurzeit agiert er als Vertrauter Petro Poroschenkos als Gebietsgouverneur von Odessa, Ukraine.

Hubert Seipel äußert sich bezüglich Putins konträr anders als die drei anderen Darstellungen, und man kann dazu lediglich anmerken, dass er seine Position überzeugend vertritt. Keine Frage, dass die in einem Beitrag für die New York Times geäußerte Kritik Wladimir Putins an den USA gerechtfertigt ist, sie suche »interne Konflikte anderer Länder durch militärische Interventionen zu lösen«. Die Frage ist lediglich, wann die Öffentlichkeit des Westens endlich zur Besinnung findet. Eine Darstellung wie die von Hubert Seipel kann dabei hilfreich sein.

Vom Hochglanz und von Peinlichkeiten

Wer das Kapitel über die Ukraine liest, wird sich über die Naivität Berlins und Brüssels nur wundern. Man hat den Eindruck, wir werden nur noch von zittrigen, kurzsichtigen, alternden Frauen regiert. Naive deutsche Politiker wollten eben noch eine politisch völlig abgewirtschaftete Julia Tymoschenko aus dem Gefängnis auslösen und werden unversehens vom Gang der Ereignisse überrannt.

Dass so eine überaus peinliche Nachrichtenlage bei den Hausmedien des ›Unternehmen Deutschland‹, des stolzen Fußball- und Exportweltmeisters, in kleingedruckte Nischen abserviert wird – so ist die Lage nun einmal in diesem unseren Lande. Hubert Seipels Darstellung kann empfohlen werden.

| WOLF SENFF

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Katja Gloger: Putins Welt. Das neue Russland, die Ukraine und der Westen
Berlin: Berlin Verlag 2015
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(Putinism. Russia and its Future with the West, New York: St Martin’s Press 2015, übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt)
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