Gangs of London

Digitales | Games: Assassin’s Creed: Syndicate

Fliegende Fäuste, schwindelerregende Kletterpartien. Karl Marx, Alexander Graham Bell und Kinder entführende Templer. Hurra, ein neues ›Assassins Creed‹ ist da – und bietet Gelegenheit in die Vergangenheit zu reisen. Dieses Mal kraxeln wir auf den Big Ben und meucheln ausbeuterische Kapitalisten im viktorianischen London zu Zeiten der Industrialisierung. Viel Qualm um nichts oder eine gut laufende Dampfmaschine? Von FLORIAN RUSTEBERG.

ACS_ka_PORTRAIT_20150603_1830cetJacob und Evie Frye sind Zwillinge und dazu geboren Assassinen zu sein. Die erste Bekanntschaft schließen wir mit ihnen, wenn wir jeweils einzelne Aufträge der Charaktere erledigen, die als Tutorial fungieren. Danach nimmt die Handlung volle (Zug-)Fahrt auf, das Duo dampft aus den Londoner Vororten in die von den kapitalistischen Templern beherrschte Stadt. Kaum dort angekommen findet uns der letzte Assassine Londons, ein Inder, und wir schmieden gemeinsam einen Plan. Naja, oder zwei Pläne, denn die beiden zänkischen Geschwister können sich nicht auf eine Vorgehensweise einigen. Der rabiate Jakob, frei nach dem Prinzip Feuer mit Feuer bekämpfen, will die London terrorisierende Bande »Blisters« direkt konfrontieren. Natürlich mit einer eigenen Schlägergang. Nach den gängigen Geschlechterklischees verfolgt seine Schwester Evie selbstverständlich ein durchdachteres Ziel, um ein wichtiges Artefakt sicherzustellen. Beide Alternativen werden in der Geschichte parallel verfolgt und stellen auch keine Auswahl dar, die der Spieler treffen muss (oder kann).

Obwohl es wenig zu entscheiden gibt, gibt es umso mehr zu tun. Neben den Missionen, die für den Fortschritt in der Handlung maßgebend sind, ist die Zahl der kleinen und großen Nebenaufträge riesig. Die Zusammenarbeit mit Koryphäen der Epoche wie Charles Darwin und Dickens steht dabei genauso auf dem Zettel wie die speziellen Auftraggeber: Inoffiziell stehen die Geschwister im Dienste der Polizei und fangen Ganoven (wenn möglich lebendig) oder befreien für ein gewieftes junges Straßenmädchen hart schuftende Kinder aus den Fabrikanlagen. Solche Gefälligkeiten erhöhen das Vertrauen dieser Parteien und schalten neue Objekte frei. Zusätzlich werden auch die Gebiete auf diese Weise von den feindlichen »Blisters« übernommen. Zwar sind die Ziele dabei recht abwechslungsreich gestaltet, in den meisten Fällen reicht es aber aus, mehr oder weniger elegant in das Gebiet zu schleichen und die Feinde einzeln zu meucheln, bis nur noch das Missionsziel vorhanden ist. Mit genügend Geschick klappt das auch in einem offenen Kampf. Ähnlich sieht es mit dem gesamten ›Assassin’s Creed: Syndicate‹ aus. Viele Ideen sind neu und bringen Variationen mit, aber erfinden im Gesamten das Spiel nicht neu.

Stock und Hut steht ihnen gut

Nichtsdestotrotz hat sich in manchen Bereich einiges getan. Neben der obligatorisch versteckten Klinge am Handgelenk wird dem Spieler überlassen, ob er als Hauptwaffe ein Messer, seine Fäuste mit Schlagringen oder einen Spazierstock mit eingebautem Dolch verwenden möchte. Besonders mit Letzterem kommt ein frischeres Kampfgefühl auf, obwohl das Grundprinzip des direkten Vorgängerspiels ›Assassin’s Creed: Unity‹ beibehalten wurde. Verbesserungen sind im Detail zu erkennen, unter anderem bei der Interaktion mit Gegnern und der Umgebung. Besonderer Wert wurde offensichtlich auf Hüte gelegt, denn hat ein Träger die erste Prügel bezogen, verliert er seine Kopfbedeckung auch prompt und realitätsgetreu. Im Kampf werden Wände und Szenerie mehr einbezogen. Dank eines Kletterseilwerfers à la »Batman« sind Gebäude schneller erklettert als in jedem ›Assassin’s Creed‹ zuvor. Freie Flächen zwischen Gebäuden lassen sich schnell mit einem Seil überbrücken. Die löblichste Besserung gegenüber dem direkten Vorgängerspiel ist allerdings eine ganz andere: ›Assassin’s Creed: Syndicate‹ läuft wesentliche stabiler und mit weniger Fehlern. Solche »Bugs« und »Glitches« sind ab und an noch zu bemerken, aber bei Weitem seltener als im letztjährigen Assassinen Abenteuer in Paris. Ebenfalls einer Verbesserung sind diverse Vereinfachungen bei den Spielewährungen und den Truhen, von denen es nun nur noch zwei Sorten gibt: offen und verschlossen. Übersichtlicher ist die große Anzahl an Bekleidung und Waffen geworden. Im Allgemein tut der Wechsel vom revolutionären Paris gut, denn die riesigen Menschenmassen hatten das Spiel immer wieder an seine Grenzen gebracht.

London sehen und erobern!

Ein Hauptdarsteller in ›Assassin’s Creed‹ ist immer die Stadt. Nirgendwo sonst wird eine lebendige historische Stadt in diesem Umfang geboten. Auch mit dem London der Königin Viktoria gelingt das und es warten markante Gebäude wie das House of Parliament und die St. Pauls Cathedral auf ihren Besteiger oder ihre Besteigerin. Viele Stadtviertel wirken »very british«, dennoch könnten an einigen Stellen die Häuser auch direkt aus Paris stammen. Egal wie die Viertel aussehen, sie können erobert werden. Dazu müssen nur die oben bereits erwähnten Missionen abgearbeitet werden, danach ist es möglich den gegnerischen Anführer zu eliminieren und das Viertel komplett zu übernehmen.

ACS_HR_BigBenFazit

Wenn ›Assassin’s Creed: Syndicate‹ das erste ›Assassin’s Creed‹ der vierten Generation wäre, würde hier ein sehr guter und innovativer Beitrag zum »Assassinen gegen Templer« Universum vorliegen. Es ist jedoch schon die zweite Iteration der Reihe ohne die alte Konsolengenration. Die zahlreichen Optimierungen und Mini-Innovationen werden Fans der Reihe wohlwollend zur Kenntnis nehmen und Neueinsteigern bietet ›Syndicate‹ den besten Einstieg in die Reihe. Wer allerdings  den wirklichen Quantensprung oder gar eine komplette Neuerfindung erwartet, muss sich noch gedulden.

| FLORIAN RUSTEBERG

Titelangaben
Assassins Creed: Syndicate
Ubisoft
seit dem 23. Oktober 2015
erhältlich für PlayStation 4, Xbox One, Microsoft Windows.
ab 49,00€ UVP.

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