später

TITEL-Textfeld | Louise Lunghard: ›später‹

Weißt du noch, Anton, als die Muskeln in deinen Armen wuchsen, bevor die Schleifmaschine in deiner Hand gezittert hat, bevor dir die Schrauben aus den Fingern fielen, bevor unser Leben langsam zerbrach, Monat für Monat, Tag für Tag, Stunde um Stunde? Weißt du noch? Und du standest in der Werkstatt zwischen Sägespänen und Leim.

»Ich kauf dir ein Haus in Italien mit Blick aufs Meer und roten Sonnenuntergängen. Ich kauf dir ein Haus. Später. Ich verspreche es dir.« Du hast viel versprochen, Anton. Auch ich habe viel versprochen, zu warten, durchzuhalten, nicht aufzugeben, wenn die Tage einsam waren und die Nacht uns trennte.

In deiner Werkstatt bautest du an unserer Zukunft aus Holz und deine Beteuerungen und Schwüre waren zahlreiche Späne, die beim Hobeln auf den Boden fielen. Dein »später« wurde von meinem Lächeln verschluckt. Aus den Blüten des Baumes im Garten wuchsen im Sommer die Kirschen heran, die Äpfel und Birnen brachten den Herbst mit dem gleich bleibenden Puls unserer Welt. Die Kinder gingen in den Kindergarten und kamen von der Schule zurück, bis sie keine Kinder mehr waren und das Haus in Lautlosigkeit versank, unterbrochen vom Ticken des Sekundenzeigers der Uhr, der die Zeit hektisch vorantrieb, die endlos lang wurde.

Als sich die Ruhelosigkeit deiner bemächtigte, dich in Gefangenschaft nahm, dir ihren Willen aufzwängte, mit deinen Beinen marionettenhafte Bewegungen vollführte, deine Hände ins Leere trieb, dich unter Stromschlägen zusammenzucken ließ,
haben wir geschwiegen. Der Löffel, die Gabel, das Messer fingen an, sich zwischen deinen Fingern von selbst zu bewegen, die Kartoffeln fielen auf den Teller zurück in unser Schweigen hinein. Dein Körper vibrierte, angetrieben von den Schwingungen des Glases in deiner Hand.

Schließlich gabst du vor, keinen Hunger mehr zu haben, keinen Durst, entzogst dich meinen Blicken, zogst dich in dich zurück. In der Nacht öffnete sich die Kühlschranktür mit leisem Quietschen, wenn du mit dir und dem Essen allein sein wolltest, mit deiner wachsenden Hilflosigkeit, deiner Angst vor dem Ungewissen, dem Entsetzen vor dir selbst. Die Beschwerden häuften sich, weil dein Holz nicht mehr passte und das Geld blieb aus. Wir haben getan, als wäre nichts, als läge unser Leben noch vor uns, als gäbe es noch Platz für Hoffnung und Glauben und Betrug und Illusion.

Jetzt endlich haben wir die Zeit füreinander, die wir nie hatten und Stille hat sich wie ein Mantel um unser Leben gelegt. Ganz selten öffnen sich noch deine Augen, in die ein kleiner Lichtstrahl fällt, der die Dunkelheit für einen kurzen Moment vertreibt. Dann kehrt der Hauch einer Erinnerung an ein Wort zurück, das im Geröll deines Kopfes seinen Sinn noch nicht verloren hat. Du sitzt in deinem Sessel und siehst mich an, während dein Mund sich zusammen spitzt, um Unverständliches in die Welt zu spucken. Mit meinen Fingern streiche ich über dein Gesicht, verwische jeden Buchstaben einzeln auf deinen Lippen. Später, Anton, wird es nicht geben.

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