Den Blick für die Wirklichkeit öffnen

Gesellschaft | Götz Eisenberg: Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus

 
Seine Eindrücke sammelt Götz Eisenberg oft dort, wo das Grauen am auffälligsten zutage tritt: an der ›Coolness‹ unserer Sprache, die Zeugnis ablegt von einem befriedeten, glatten Alltag, dessen etwaige Dellen und Rostbeulen sogleich von allgegenwärtigen »Ingenieuren der Seele« (Joseph Stalin) eingeebnet werden. Von WOLF SENFF 

Eisenberg1Krass, für unsere Verhältnisse. Ebenso wie die Tatsache, dass der schreckliche alte Joseph Stalin so nahtlos in die Gegenwart übertragbar ist. Ohne den Quellenhinweis wäre das nicht aufgefallen. Da läuft etwas auf einer fundamental falschen Spur, »der frei flottierende Wahnsinn« gibt unbestreitbar Anlass zur Sorge.
 
Identitätsstiftender Konsum

Götz Eisenberg, der überzeugende Untersuchungen über Jugendgewalt und über Amokläufe der neunziger Jahre veröffentlichte, legt diesmal eine besondere Form von Essay vor. Er tritt passsagenweise als außenstehender Beobachter der deutschen Gegenwart auf und knüpft seine Gedanken und Interpretationen an Phänomene unseres Alltags.
 
Gleichsam aus der Distanz eines Ethnologen wirft er in kurzen Exkursen einen Blick auf den Straßenverkehr, auf Hundehaltung, Flaschensammler, auf den Verlust von Heimat; er beobachtet ein Zeitalter der Narzissmus in einer Welt, »deren Wesen die permanente kapitalkonforme Umwälzung ist«, sowie, auf die Gegenwart gemünzt: »Die hinter uns liegenden, von der Praxis des Neoliberalismus geprägten eisigen Jahre haben die Menschen selbst eisig werden lassen und ihre Innenwelt vergletschert«, und im Alltag bewege sich »ein schwaches Selbst an den Krücken eines identitätsstiftenden Konsums und um ihn kreisender Inszenierungen«.
 
Verlässliche Lebensplanung?

Wir sind auf Eisenbergs manchmal zugespitzte Formulierungen angewiesen, damit unsere Augen für die Wirklichkeit geöffnet werden. Einen »Denkanstoß geben« nannte man das einmal. Wiederholt konstatiert Eisenberg die Tendenz, dass sich Identitäten auflösen, den sich wandelnden Bedingungen anpassen, jeglichen Bezug zu einem stabilen Ich verlieren. Er ist ja nicht der erste, der so etwas wahrnimmt und beschreibt. Man fragt sich, wann endlich Politik sich zum Ziel setzt, Bedingungen zu schaffen, die dem Individuum eine verlässliche Lebensgestaltung ermöglichen.
 
Eisenbergs häufige begleitende Verweise auf Beispiele der Literatur von Georg Büchner bis hin zu Mo Yan öffnen im übrigen stets eine Dimension, in der nicht die kurzatmige, hektische Gegenwart im Brennpunkt steht, sondern die verstehende Wahrnehmung, das poetische Denken.
 
Politik? Nicht zuständig!

Wir lesen eine scharfsinnige ›Tour de force‹ durch unseren Alltag und seine sozialpsychologischen Zusammenhänge; wir lernen an allerlei Beispielen, dass eine bunt aufgebrezelte Oberfläche in den meisten Fällen dazu dient, über gefährliche Abgründe hinwegzutäuschen. Die Manie, alles und jeden zu fotografieren, stärke nicht etwa die Erinnerung, sondern sie provoziere ihr Gegenteil, das Vergessen. ›Flexibilisierung‹ etwa, der so positiv daherkommende »Schlüsselbegriff der entfalteten kapitlistischen Marktgesellschaft«, verlange vom Einzelnen, dass er die eigenen Lebensentwürfe den jeweiligen Anforderungen des Arbeitsmarktes unterordnet.
 
Eisenberg entwickelt diesen Gedanken weiter und sieht einen Verzicht auf Persönlichkeit bzw. eine Infantilisierung der Erwachsenen. Er weist auch hier wieder darauf hin, dass er nicht der erste sei, der diesen Gedanken vertritt, und erneut drängt sich dem Leser die Frage auf, was denn wohl die hiesigen Politiker umtreibt, dass sie derart zentrale Themen nicht zur Kenntnis nehmen.
 
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Die führen halt lieber Kriege, möchte man meinen, und sind längst selbst infantil, an anderer Stelle spricht Eisenberg von »Verwahrlosung und moralischer Verwilderung der herrschenden Klassen«, die industrielleZivilisation sei »ins Stadium ihrer Selbstzerstörung« eingetreten.
 
Wiederholt spricht er die Situation von Kindern und Heranwachsenden an; während bis in die frühen sechziger Jahre eine rigide Erziehung inklusive Drill und Dressur üblich war, seien gegenwärtig »Nicht-Erziehung und Indifferenz Kindern gegenüber« verbreitet und deren Konsequenz u.a. eine »rabiate Kontakverarmung«. Es ist erschütternd, die Szenarien zu lesen, die er zu diesem Thema ausbreitet.
 
Wo der Irrsinn wohnt

»Jede Entwicklungsstufe des Kapitalismus«, so zeigt er im letzten Kapitel, »bringt die ihr gemäßen Charaktermasken hervor«. Das verheißt nicht Gutes. Er hält uns einen Spiegel vor, und es bedarf durchaus eines gewissen Maßes an Mut und Selbstvertrauen, sich diesen Zeilen zu stellen und mit Götz Eisenbergs Augen einen prüfenden Blick auf die Gegenwart zu werfen.
 
Hinter den gigantischen globalen Finanzströmen sieht er »wendige, skrupel- und charakterlose Geldsubjekte«, für die bürgerliche Moralvorstellungen längst nur noch böhmische Dörfer sind, eine »psychopathisch gewordene Geldwelt zieht wie ein Magnet psychopathische Menschen an und produziert sie«, und man kann all dem problemlos folgen, zumal Götz Eisenberg seine Thesen überzeugend belegt und illustriert.
 
Worin Manager echt besser sind

Und klar dass auch die heranwachsende Generation durch diese vermeintlichen Günstlinge des Erfolgs geprägt wird. Alles fügt sich irgendwie. Es ist nicht leicht, sich all diesen Tatsachen zu stellen. Ärzte, so Eisenberg, diagnostizieren bei unseren Heranwachsenden immer häufiger eine ›digitale Demenz‹, konkret meint das: Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie eine emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung. Den hier entstehenden Sozialisationstypus nennt er »funktionale Psychopathen« bzw., einer Überschrift des ›SPIEGEL‹ folgend, »Raubtiere ohne Ketten«.
 
Diese Fakten sind nicht etwa neu. Eisenberg erwähnt englische Psychologen, die Manager mit Insassen einer Hochsicherheitspsychiatrie verglichen. Die Manager erwiesen sich, was die Bereiche Unaufrichtigkeit, manipulatives Verhalten, Egozentrik, Mangel an Empathie, herrisches Auftreten und Uneinsichtigkeit angeht, als deutlich qualifizierter.
 
Gut, wir wundern uns gar nicht darüber, und manch einer sieht sich in seinen Vorurteilen bestätigt. Aber wir fragen uns, was denn nun gegen diese bedrohlichen Verhältnisse getan wird. Steht uns wirklich eine Gesellschaft bevor, die sich immer weniger auf Gewissen, Moral und verinnerlichte Selbstzwänge verlässt und stattdessen auf elektronische und pharmakologische Mechanismen der Steuerung und Kontrolle setzt? Nein, besonders vielversprechend sieht es nicht aus.
 
| WOLF SENFF
 
Titelangaben
Götz Eisenberg, Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus
Frankfurt/Main: Brandes & Apsel 2015
292 Seiten, 24,90 Euro
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