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Ein Urstrom der Geschichte

Gesellschaft | Hans-Dietrich Genscher, Karel Vodička: Zündfunke aus Prag

Hans-Dietrich Genscher schreibt das Vorwort zu Karel Vodičkas Zündfunke aus Prag. Wie 1989 der Mut zur Freiheit die Geschichte veränderte. Ereignisse, die derart lange zurückzuliegen scheinen, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung anhand von Regierungsdokumenten sie in ein neues Licht zu rücken vermag. Aus politischen Interna stellt sich die Geschichte der Massenflucht von 1989 anders dar. VIOLA STOCKER ist tief berührt von Ereignissen, die die Welt veränderten.

zuendfunke-aus-pragObwohl gerade keinerlei Jahrestage anstehen, stimmt die Lektüre von Karel Vodička feierlich. Der Politologe, der 1985 mit seiner Familie die Tschechoslowakei verließ, um ins politische Exil zu gehen, hat zusammen mit Zeitzeugen wie Hans-Dietrich Genscher und Petr Pithart eine einfühlsame Analyse der Geschehnisse verfasst, die 1989 schließlich zum Zusammenbruch nicht nur des DDR-Regimes, sondern auch zum politischen Umbruch im ganzen Ostblock führten.

Dokumentation emotionaler Ereignisse

Vodička beginnt seine Dokumentation mit der Silvesternacht 1988/89. Von nun an wird an jedem Seitenunterrand das Datum des Tages stehen, der besprochen wird. Schließlich behandeln die ganzen dreihundertzweiundfünfzig Seiten nur wenige Monate. Als Politologe am Hannah-Arendt Institut für Totalitarismusforschung erhält er den einzigartigen Zugang zu Dokumenten und Gesprächsnotizen von jenen Regierungen, die maßgeblich in diesem Jahr an den Ereignissen beteiligt waren: der BRD, der DDR, der ČSSR.

In der Kurzfassung geht es um die Botschaftsflüchtlinge, die in diesem Jahr die Prager Botschaft der BRD besetzen und so ihre Ausreise in die BRD erzwingen wollen. Mehrere Tausend Menschen werden so im Laufe des Jahres die DDR verlassen, die ansonsten wie ein hermetisch abgeschlossener Kessel wirkt. Was ist geschehen? Michail Gorbatschow hat in Moskau die Perestroika eingeläutet. Er möchte, dass die UdSSR sich in einem langsamen Wandel demokratisiert und modernisiert, um in der sich globalisierenden Weltwirtschaft bestehen zu können.

UdSSR und Ungarn als Vorbild

Die Waschauer-Pakt Staaten reagieren unterschiedlich auf das sowjetische Vorbild. Während Ungarn sich sehr schnell öffnet, schotten gerade die DDR und die ČSSR sich vermehrt ab. Für die Bürger in den betroffenen Staaten war Ungleichheit noch nie so offensichtlich. Wer kann, reist nach Ungarn und von dort über Österreich nach Westdeutschland. Schnell reagieren DDR und ČSSR und schließen die Grenzen zu Ungarn.

Nachdem die BRD die DDR nie als eigenen Staat anerkannt hatte, gibt es entsprechend keine Botschaft des bundesdeutschen Außenministeriums in der DDR. DDR-Bürger, die fliehen wollen, haben also als nächsten Anlaufpunkt die BRD-Botschaft in Prag. In jener Silvesternacht klettern die ersten Flüchtlinge über den Botschaftszaun. Es sollen im Laufe des Jahres 1989
an die Zehntausend werden.

Weitblick Genschers, Tunnelblick der Blockstaaten

Anhand der Analyse Vodičkas wird sehr schnell deutlich, wie unterschiedlich flexibel die Regierungssysteme auf die anfangs vereinzelten Vorgänge reagieren. Die DDR schickt Rechtsanwalt Vogel ins Palais Lobkowicz, um die Botschaftsflüchtlinge mit vagen Zusicherungen zur Ausreise zur Rückkehr in die DDR bewegen zu können. Der Plan, diskret zu arbeiten, geht indes nicht auf, denn westliche Medien berichten von dem Vorfall, der sofort andere Menschen zur Flucht inspiriert.
Im Juni 1989 wird der ungarisch – österreichische Grenzzaun symbolisch von den Außenministern der beiden Länder durchgeschnitten. Daraufhin bildet sich die erste Fluchtwelle von 50.000 Menschen im September 1989. Die DDR reagiert umgehend und schottet sich ab. Die Zahl der Zuflucht Suchenden in der Prager Botschaft nimmt zu. Der damalige Botschafter Huber erkennt schnell die Brisanz der Lage und fordert beim Außenministerium Unterstützung an, die in Form von Zelten, Feldküchen, DRK-Bediensteten und Lebensmittellieferungen erfolgt.

Eine Diktatur schlägt um sich

Offensichtlich verlieren die Regierungssysteme der DDR und der ČSSR jede Glaubwürdigkeit und jeden Rückhalt in der Bevölkerung. In den kommunistischen Staatsmedien werden diffamierende Hetzkampagnen gegen die Flüchtlinge losgetreten, die aber jeder Substanz entbehren und die verzweifelte Lage der Regierungen offen legen. Derweil weilt Genscher in New York auf der UNO-Vollversammlung und versucht, mit seinem sowjetischen Amtskollegen Schewardnadse ins Gespräch zu kommen. Vodičkas Verdienst ist es, alle verschriftlichten Dokumente zu diesen Ereignissen chronologisch sortiert und wissenschaftlich aufbereitet zu haben, so dass sich die Lektüre nicht holprig, sondern spannend gestaltet.

Ständig von Huber informiert, realisiert Genscher schnell das Ausmaß und Potenzial der Geschehnisse in Prag. In einem Gespräch mit Schewardnadse wird es auch um die Entscheidungen des CDU-Parteitags von 1989 gehen, auf dem die Politiker die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 gefordert hatten, was einen massiven Eingriff in die Gestaltung der Grenzen des gesamten Ostblocks bedeutet hätte. Genscher reagiert sehr schnell auf die Bedenken Schewardnadses und kann ihn davon überzeugen, dass die BRD keine revisionistische Politik verfolgen wird. Im Gegenzug dazu beschließt Schewardnadse in Rücksprache mit Gorbatschow, sich aus der politischen Entwicklung in der DDR herauszuhalten.

Vereinsamung von DDR und ČSSR

Genscher erhält quasi einen Freibrief von Moskau. Zugleich gilt es, behutsam zu agieren, um unnötige Streitigkeiten oder gar ein Eingreifen der Volksarmee zu vermeiden. Als ersten Schritt stoppt die Bundesregierungen die Verhandlungen mit dem Chefunterhändler der DDR, Schalck-Golodkowski, der der finanziell ruinierten DDR Westdevisen in Form von Krediten besorgen soll. Bundeskanzler Kohl sieht eine Chance, die DDR stürzen zu lassen und nutzt sie.
Die verzweifelte DDR-Führung um Honecker ist vor allem besorgt über eine friedliche Gestaltung des vierzigsten Jahrestags der DDR und lässt sich auf zunehmendes Drängen der ČSSR auf einen Deal ein: Alle Botschaftsflüchtlinge dürfen mit der Bahn über die DDR in die BRD ausreisen. Botschafter Huber ist erleichtert, denn mittlerweile sind die Zustände in der Botschaft unerträglich geworden. Es beginnt aber ein nicht zu stoppender Massenexodus. Mehrmals wird die Aktion wiederholt werden müssen. Ein System wird ad absurdum geführt.

Blindheit einer Diktatur

Vodičkas Analyse zeigt anhand von Telegrammen, Telefonaten, Geheimdienstdokumenten und Zeitungsartikeln, wie blind und hilflos die sozialistischen Regierungssysteme waren. Die Wechsel an den Regierungsspitzen waren nur ein weiterer Ausdruck der Hilflosigkeit. Im wilden Galopp wurden Grenzen geschlossen und wieder geöffnet, visafreie Reisen erlaubt und verboten. Die Bevölkerung reagierte alarmiert, alle, die konnten, verließen die auseinanderbrechende DDR.

Am meisten berührt an Vodičkas Buch die Tatsache, dass gerade eben sich wieder ein Urstrom von Flüchtlingen aus zerbrechenden Staaten sich in Bewegung setzt. Wer liest, wie prekär zum Teil die Lage der Botschaftsflüchtlinge in Prag war, wird vorsichtiger sein in seinem Urteil den Flüchtlingen aus zerbrechenden arabischen Ländern gegenüber. Wer in seinem Land keine Zukunft mehr sieht und den Machthabern kein Vertrauen schenkt, geht, solange er jung genug ist. Die meisten Botschaftsflüchtlinge waren junge Männer und Familien, die nicht mehr in einer Diktatur leben wollten. In der bundesdeutschen Botschaft fanden sie Aufnahme, Verständnis und Hilfe. Vor allem das rücksichtsvolle und vorausschauende Verhalten der bundesdeutschen Regierung lässt die Ereignisse von 1989 wie ein Wunder wirken.

| VIOLA STOCKER

Titelangaben
Hans-Dietrich Genscher, Karel Vodička: Zündfunke aus Prag. Wie 1989 der Mut zur Freiheit die Geschichte veränderte
München: dtv-Verlag 2014
352 Seiten. 14,90 EUR
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