Konventionelle Kost

Jugendbuch | Katherine Rundell: Sophie auf den Dächern

Der Fantasie freien Lauf lassen, heißt, Grenzzäune einreißen, neue Wege entlangstürmen und gegen Konventionelles angehen. Das kann anregende Ergebnisse auf vielen Gebieten bringen, auch auf Künstlerischem. Allerdings läuft man Gefahr, den freien Lauf mit Beliebigkeit zu verwechseln. Dann ist das Endergebnis nur konventionell. Eben das ist der jungen englischen Autorin Katherine Rundell mit ihrem zweiten Jugendbuch passiert. Von MAGALI HEISSLER

SophieSophie hat als eine der wenigen ein Schiffsunglück im Ärmelkanal überlebt. Gerettet wurde sie von einem weiteren Überlebenden, dem Privatgelehrten Charles Maxim. Charles war es auch, der dem Baby den Namen gab und überdies beschloss, für das Kind zu sorgen. Allerdings hat er die Rechnung ohne die staatliche Behörde für das Kindeswohl gemacht. Diese taucht in Gestalt von Miss Eliot in den nächsten Jahren immer wieder auf und bringt das Zusammenleben von Charles und Sophie durcheinander.

Ansonsten ist ihr Leben gemütlich und glücklich, geradezu schwerelos. Getrübt wird es nur von Sophies Sehnsucht nach ihrer Mutter. Sophie weiß nämlich sicher, dass sie ihre Mutter eines Tages finden wird. An ihrem zwölften Geburtstag allerdings soll das Mädchen auf Betreiben von Miss Eliot endgültig in ein Waisenhaus eingewiesen werden. Ein Zufall in letzter Minute liefert eine neue Information über Sophies Mutter, aber die Zeit ist knapp. Charles und Sophie bleibt nur die Flucht. Sie führt sie nach Paris.

Dort trifft Sophie ein Grüppchen von Kindern, die ein Leben führen, von dem nicht einmal sie je geträumt hat. Sie leben auf wunderbare Weise auf den Dächern über der Stadt. Vielleicht findet sich dabei eine Möglichkeit, Sophies heiß ersehntes eigenes Wunder wahr werden zu lassen?

Biederkeit und Binsenweisheiten

Rundells Geschichte hat viel von einem Märchen. Ihre Handlung ist zeitlich nicht festgelegt, sie spielt irgendwann, als Frauen keine Hosen tragen und nicht Orchestermusikerin sein durften und man in Kutschen und plüschigen Zügen mit Dampflok fuhr. Verortet ist sie in London und Paris, die vornehmlich aus bekannteren Straßennamen und ein paar Wahrzeichen bestehen. Es ist eine reine Spielbrettwelt und Rundell spielt mit Verve und Leidenschaft, aber ohne ernsthafte Überlegung.

Das spürt man bei der linearen Handlung, deren Wendungen nur bestimmt sind von spontanen Einfällen. Besonders aber merkt man es an der Charakterisierung der Figuren. Sie sind nicht lebendig. Ihre Eigenschaften sind nur anbehauptet. Was herauskommt, ist simple Überspanntheit bei Sophie und Charles, später auch bei den Kindern auf den Dächern, sowie unschöne Schwarz-Weiß-Malerei bei den Nebenfiguren.

Charles soll großzügig, liebevoll und verträumt sein. Seine Lebenserfahrung bezieht er vornehmlich aus Büchern. Was er jedoch äußert, sind Binsenweisheiten, etwa, dass es nur auf Liebe ankommt oder dass man nie eine Möglichkeit außer Acht lassen soll, wogegen er übrigens selbst häufig verstößt. Oder ebenso platte Vorteile, die ihm die Autorin freudig in den Mund legt. Erwachsene zeichnen sich dadurch aus, dass sie Langweiliges gut finden. Oder: Menschen in Büros sind meist unangenehme Zeitgenossinnen. Dieses Bild vermittelt er Sophie.

Was dahintersteckt, ist kein Auflehnen gegen Konventionelles, sondern eine gedankenlose Aneinanderreihung altbackener Vorurteile und Sentimentalitäten. Charles ist bei genauerer Betrachtung kein freundlicher Tagträumer, der Shakespeare liebt – auch das noch –, sondern ein Egozentriker, der nicht erträgt, dass jemand etwas von ihm verlangt, das er nicht tun will. Er ist kein verantwortungsvoller Mensch, sondern ein launisches Kind. Sophie wird sein Spiegelbild. Echtes Sozialverhalten sucht man hier vergeblich. Die Hauptfiguren kreisen in ihrem kleinen Kosmos um sich. Dass so eine Schilderung rundum positiv ausgemalt wird, passt in unsere Welt, in der der Unterschied zwischen Egoismus und Individualismus untergegangen ist wie der Dampfer, auf dem Baby Sophie reiste.

Seilakrobatik

Junge Leserinnen werden viele Seiten lang entzückt sein von den putzigen Einfällen, die die Autorin aus der Luft greift, um das Aufwachsen Sophies möglichst andersartig, aufregend und märchenhaft zu schildern. Von den wilden Abenteuern, den schrägen Vorkommnissen. Das Ergebnis aber ist gezwungen, künstlich, alles andere als wahr. Es gibt keine echten Konflikte, keine Reibungen, alle Wünsche werden erfüllt. Ein reiner Erzähl-Zirkus mit Elefanten, Pferden mit Federbüschen und bunten Clowns aus Pappe zu Wumm-Tata-Musik vom Band.

Die Sprache ist aufgesetzt poetisch, Vergleiche oft unangenehm manieriert. Auch hier findet man vor allem Akrobatik. Die Autorin ist sprachverliebt, kein echtes lyrisches Talent. Sophie hat »Haare leuchtend wie ein Blitz«, und »das Gesicht einer Kriegerin«, eine Süßigkeit schmeckt wie der klare blaue Himmel. Das wird auch nicht verständlicher, wenn man es mehrfach wiederholt. Klar wird nur, dass es um Effekte geht, sonst nichts.

Dass Rundell, um ihrer Geschichte Wendungen zu geben, vor allem aber, um festzulegen, was die Leserinnen zu denken haben, immer wieder in die Rolle der allwissenden Erzählerin schlüpft, schafft zwar den gewünschten viktorianisch angehauchten Touch, trägt zur Behäbigkeit nur bei.

Die Problematik zeigt sich auch in den Parisszenen. Die Geschehnisse wie die Zeichnung der Kinder verbleiben im Herkömmlichen. Arm sind sie, kleine Diebinnen und Diebe mit einem eigenen Ethos, wehrhaft, vor allem aber trotz ihrer zwölf, dreizehn Jahre in der Beurteilung ihre Lage abgeklärt und reif in einem Maß, das wenig überzeugend ist. Sehr anfechtbar ist auch die ihnen zugeschriebene Philosophie, etwa über guten und schlechten Schmutz. Gemeint sind, wie schon bei Charles, andere Menschen. Das Scheren über einen Kamm beherrscht die Autorin im Schlaf.
Magisch schön beschrieben turnen diese Gestalten hoch oben in Baumkronen und über Dächer. Sie lieben das, der Himmel gehört nämlich ihnen, sie sind ihm so nah. Bedenkt man, wie prekär das Leben der Kinder der Ärmsten de facto ist und wie schnell gerade sie unter die Räder kommen können, ist dieser Kitsch nicht mehr nur billig, sondern zynisch.

Der Handlungsverlauf ist so banal wie seine formelhaften Versatzstücke, er wird dann künstlich aufgewertet durch Bezugnahme auf klassische Musik. Das erwählte Instrument ist ein Cello. Sophie lernt auf wundersame Weise, es zu spielen. Schon in London spielt sie es grundsätzlich draußen auf dem Flachdach. Das arme Instrument. Als zentrales Musikstück wird das Requiem des nichtsahnenden Fauré genannt. Gemeint ist wohl eher die Elegie, sie ist kürzer, tatsächlich für Cello und noch dazu ein Stück, das tatsächlich eine Art Marsch wird, wenn man es doppelt schnell spielt. Was Sophie tut und manch eine andere im Buch auch. Musik ist vor allem gut, wenn man dazu tanzen kann, wird propagiert.

Das Buch spricht den Abenteuersinn und den Sinn für Märchenhaftes bei einer jungen Leserinnenschaft an, serviert aber vornehmlich Albernheiten, unreife Hauptfiguren und viel, viel Sentimentalität. Es ist also keine »Speise aus Sahne und Mondlicht«, sondern billiges klebriges Zuckerzeug. Wie bei derartigem Zuckerzeug ist das Beste daran die Verpackung. Cover und Layout sind einfach schön.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Katherine Rundell: Sophie auf den Dächern
(Rooftoppers, 2013). Aus dem Englischen Henning Ahrens
Hamburg: Carlsen 2015
250 Seiten. 14,99 Euro
Jugendbuch ab 11 Jahren
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