Märchenstunde, gruselschön!

Kinderbuch | Paul Biegel: Der Fluch des Wüstenwolfs

 
Wenn die Märchenstunde schlägt, werden auch heutzutage noch die Ohren gespitzt, nicht nur von Kindern. Wenn einer wie Paul Biegel erzählt, kann man sicher sein, dass für jede und jeden etwas dabei ist. Abenteuer und Spaß, Gespenstisches und Nachdenkliches, Räuber, Magie und natürlich Liebe. All das findet sich auch in der gerade erschienenen Geschichte ›Der Fluch des Wüstenwolfs‹. Dass einer bei der gruselig-schönen Märchenstunde hin und wieder fast der Atem stockt, ist genau so sicher. Von MAGALI HEISSLER

Der Fluch des WüstenwolfsDr. Kroch sorgt auf das Beste für die Kranken, die in seine Praxis kommen. Dafür ist er weit und breit berühmt, ebenso wie für seine wissenschaftlichen Forschungen und seine feste Überzeugung, dass sich alles rational erklären lässt. Als eines Tages eine Kiste mit Gold geliefert wird, samt dem Brief eines Unbekannten, der von Dr. Kroch von »Goldfieber« geheilt werden möchte, weiß der Doktor gleich, dass das ein Scherz ist. Goldfieber ist keine irgendwie bekannte Krankheit. Überhaupt ist Gold nur Plunder, mit dem ein wahrer Wissenschaftler nichts anfangen kann.

Sein treuer Diener Valet ist anderer Meinung. Zwar ist auch er ein ganz guter Arzt, aber er ist zugleich überzeugt, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt, als sich vernünftig erklären lässt. Und Gold ist kein Plunder! Genau das finden auch zwei Räuber. Für sie ist klar, das sie die Kiste mit dem Gold haben müssen. Doch wie? Die beiden sind nicht gerade begabt für ihren Beruf.
Als seltsame Geschehnisse den Doktor überzeugen, dass er wirklich sich auf den Weg zu dem geheimnisvollen Patienten machen muss, samt dem Goldschatz, sind die Räuber mit von der Partie. Dass sie eine weiße Dame, eine verzauberte Burg und schreckliche Gespenster finden werden, damit hat keiner von ihnen gerechnet. Das Schlimmste aber ist, dass sie übersehen haben, dass das Gold nicht harmlos ist. Und schon recken sich bedrohlich die Klauen des Wüstenwolfs nach ihnen.
 
Falsche Fährten zur richtigen Spur
 
Biegel legt von Anfang an falsche Fährten, obwohl er sich genau an die zur Geschichte gehörenden Tatsachen hält. Die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser wird geschickt auf die Wirkung geleitet und von der Frage nach den Ursachen abgelenkt. Dass hier auf eine physikalische Gesetzmäßigkeit angespielt wird, ist kein Zufall, ist der Protagonist Dr. Kroch doch ein überzeugter Wissenschaftler. Wobei gleich gar nicht so sicher ist, ob diese zentrale Figur tatsächlich die Hauptfigur ist. Womit Biegel ebenfalls spielt, ist die Neigung des Publikums, sich mit angeblichem Vorwissen in eine Position der Überlegenheit zu begeben. Auch das erweist sich als Täuschung. Das Mitfiebern, weil man so sicher zu wissen, wer aus welchem Grund handelt, basiert auf falschen Eindrücken. Der Drahtzieher der geheimnisvollen Geschehnisse arbeitet so im Verborgenen, dass man ihn lange, lange übersieht. Das Raffinierte dabei ist, dass von ihm schon im ersten Kapitel die Rede ist.

Die falschen Fährten ebenso wie die versteckte richtige Spur führen in immer rasanter werdendem Tempo in eine Handlung, wie sie verzwickter und bunter kaum sein könnte.
Biegel bedient sich für seine Motive freizügig bei Märchen, Sagen und Legenden. Gold und die Zahl dreizehn, Wahrsagung, spukhafte Ballnächte in glanzvollen Sälen, die bei Tag nur eine Ruine sind, ein mysteriöser Ring und selbstverständlich ein böser, böser Fluch bannen eine. Ehe man es sich versieht, ist man mitten in der Märchenwelt. Biegels brennt ein grandioses Feuerwerk ab, ist um keinen Einfall verlegen und noch einen Fingerbreit vor der anscheinend wirklich letzten Mauer tut sich erneut ein Pfad auf, auf dem man neuen Wunder begegnet. Die Übersetzung von Eva Schweikart ist ihren übersprudelnden Fantasien rundum gewachsen, gleich, ob barocke Sprache, Märchenhaftes, Komik oder strenge Wissenschaftlichkeit gefragt sind.
 
Märchen von der allumfassenden Gier
 
Auch wenn der Erzählton deutlich einem sehr jungen Publikum gilt, ist das Ganze an keiner Stelle kindlich und grundsätzlich meisterlich gearbeitet.
Das bedeutet, dass Biegel nichts vermeidet, was Ängste und Schreckmomente auslöst. Das Geschehen wird zunehmend bedrohlicher und angsteinflößend. Die Gefahren, denen die Figuren ausgesetzt sind, kommen direkt beim Publikum an. Nichts ist niedlich hier, verniedlicht schon gar nicht.

Dass trotzdem viel gelacht wird, verdankt man den beiden Räubern, deren Tollpatschigkeit bei dem, was der größte Raubzug ihres Lebens sein soll, immer wieder zum Zug kommt. Das erlösende Gelächter ist auch nötig angesichts des fundamentalen Themas, das Biegel eigentlich behandelt, der Goldgier nämlich. Schönheit und Besitzgier, Machtstreben und Wunder, Freude und Leid, die beiden Seiten der Wirkung, die Gold auf Menschen hat, werden wieder und wieder vorgeführt. Es geht wortwörtlich um Leben oder Tod.
›Der Fluch des Wüstenwolfs‹ ist ein echtes Märchen, mit Moral, einer Lehre, dem erhobenen Zeigefinger. Dass man nichts davon spürt, während man dem fantastischen Abenteuer lauscht oder es lesend erlebt, ist noch ein Kunstgriff Biegels, für den man ihn sehr bewundern muss.

Carl Hollander hat sehr bunte, detailreiche, aber nie überladene Zeichnungen zu der Geschichte gemacht. Die doppelseitigen Farbzeichnungen zeigen ein verhaltenes Leuchten, selbst die Nachtbilder strahlen sacht. Interieurs und Außenansichten von Burg und Zauberstadt haben eine gleichermaßen anziehende wie gruselige Atmosphäre. Geheimnisse locken, aber auch der Tod lauert. Die kleineren schwarz-weißen Illustrationen nehmen die Atmosphäre auf, was ist Realität, was Märchen? Ist alles nur ein Traum? Allein beim Betrachten der Bilder kann man sich schon in dieser Zauberwelt verlieren.

Dieses eigenwillige Spiel mit Vertrautem, um eine alte Erkenntnis zu propagieren, bringt in jeder Hinsicht Gewinn und nicht nur kleinen Lesenden.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Paul Biegel: Der Fluch des Wüstenwolfs
(1974 De vloek van Woestewolf, a.d. Niederländischen übersetzt von Eva Schweikart)
Stuttgart: Urachhaus 2016
186 Seiten, 16,90 Euro
Kinderbuch ab 9 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Nur die Schuldigen sind schuldig

Nächster Artikel

Wer mit dem Feuer spielt

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Fast wie die Queen

Kinderbuch | Frauke Angel: Ein Zimmer für mich allein

Elli hat ihren Namen Elizabeth (mit Z!) bekommen, weil ihre Mutter die englische Königin toll fand. »So sollte man als Frau durch Leben gehen«, findet die alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Aber anders als die Queen, die im Buckingham Palace Zimmer ohne Ende hatte, muss sich Elli ihres mit den beiden Brüdern teilen. Dabei hat sie nur einen Wunsch, den ANDREA WANNER nur zu gut versteht.

Das ganz normale Unglück – und noch etwas

Kinderbuch | Stefan Boonen: Der Riese, der mit dem Regen kam Ein hässliches Hochhaus, unsympathische Nachbarinnen, pubertierende Rowdys, Armut und vernachlässigte Kinder, das hat man doch schon alles gelesen. Und nicht nur einmal. Aber nicht mit Riesen! Stefan Boonen hat sich für sein jüngstes Kinderbuch etwas Besonderes ausgedacht, ganz, ganz besonders. Von MAGALI HEISSLER

Der Lauf des Lebens

Kinderbuch | Werner Holzwarth: Der Winter des Eichhörnchens

Wenn man sogar vom Haselnussstrauch verspottet wird, weiß man, dass etwas nicht stimmt. Wie gut, dass ein großer Baum eine andere Antwort weiß, und das Eichhörnchen ein bisschen tröstet. Werner Holzwarth und Mehrdad Zaeri erzählen eine berührende Alzheimergeschichte. Von GEORG PATZER

»Wo ist das Meer?«

Kinderbuch | Willy Puchners Fabelhaftes Meer Die ratlose Frage des Ringelnatzschen Meerschweinchens lässt ein bisschen von der Sehnsucht erahnen, die uns Landratten und Binnenländer vom Meer träumen lässt. Willy Puchner ist dem Geheimnis des Meeres auf der Spur. Von ANDREA WANNER

Freiheit allein genügt nicht

Kinderbuch | Martina Baumbach: Ab heute wird’s wild und gefährlich Einfach hinaus, mitten ins Abenteuer, wild sein. Frei! Warum soll man sich diesen Wunsch nicht erfüllen? So allein in der Welt aber sieht die Freiheit sehr groß aus. Zu groß für eine kleine Katze? Martina Baumbach hat sich eine abenteuerliche Geschichte ausgedacht. Von MAGALI HEISSLER