Die Heiterkeit des Unerträglichen

Roman | Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns

»Mein Leben verlief nicht so, wie ich es mir einmal vorgestellt hatte«, bekennt der namen- und alterslose Ich-Erzähler im neuen Roman aus der Feder von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino und funkt damit auf der gleichen emotionalen Frequenz wie die meisten Protagonisten aus den Vorgängerwerken. Über den neuen Roman von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino Außer uns spricht niemand über uns – von PETER MOHR

Genazino_25273_MR1.inddDiese Figuren pendeln stets ein wenig zwischen Flaneur und Streuner, zwischen Müßiggänger und Penner und haben sich einen kommoden Mikrokosmos des Scheiterns eingerichtet. Etwas hilflos, aber nicht wirklich unglücklich arrangieren sie sich mehr oder weniger gut mit dem eigenen Versagen.

Genazinos neuer Protagonist arbeitet als freiberuflicher Sprecher bei einem Radiosender (»eine einzige Frauenverwelkungsanstalt«) und moderiert hin und wieder Modenschauen oder andere unbedeutende Kleinveranstaltungen. Schauspieler war sein Berufswunsch, tatsächlich ist er lediglich Regisseur einer gescheiterten Existenz geworden. Er inszeniert nach Kräften seinen eigenen bescheidenen Alltag, eine seltsame Mischung aus quälendem Pflichtprogramm und passiver Dauerbeobachterrolle.

Seine Freundin Carola ist Ende dreißig, vermutlich deutlich damit jünger als die Hauptfigur, arbeitet in einer Spedition und ist deutlich aktiver, eine praktische »Macherin«. Über eine gewisse Zeit verspürt sie sogar eine Affinität zu den emotionalen Berg- und Talfahrten des Partners, zu seinem ständigen Changieren zwischen Selbsthass und exaltiertem Narzissmus. Vielleicht sind es aber auch Mutterinstinkte, wie bei vielen vorangegangenen Genazino-Frauenfiguren, die diese Beziehung zunächst halbwegs im Lot halten, denn relativ schnell wird klar: Sie »passten nicht wirklich zusammen«. Nach der Trennung gerät ausgerechnet die so stark wirkende Carola völlig aus der Bahn.

Genazinos Radiosprecher ist wieder eine Art Flaneur, ein eigenwillig-verschrobener Zeitgenosse mit gut geschultem Auge, der kleinste Details in Schaufensterauslagen (wie mit einem fotografischen Gedächtnis) festhält. Liebenswert, versponnen, introvertiert und passiv bis nahe an die Grenze zur Apathie, und doch gewinnen diese bisweilen pittoresk gezeichneten Anti-Helden auf kaum zu erklärende Weise die Sympathie der Leser.

Dies mag daran liegen, dass der 73-jährige Wilhelm Genazino seine Figuren – trotz aller Macken und Marotten – niemals der Lächerlichkeit preisgibt. Zum Ende des wieder einmal sehr schlanken Romans wird es dann ungewöhnlich drastisch, zumindest für Genazino-Verhältnisse. Es stinkt und fault allenthalben, ausgefallene Sexualpraktiken und Obdachlosigkeit in ihren erschreckendsten Ausmaßen werden beschrieben.

Die Alltags-Armut und die massenhafte Verwahrlosung der Individuen hat Genazino ungeschminkt dargestellt. Hart und schockierend, aber keineswegs auf Effekte getrimmt. »Mein Leben verwandelte sich mehr und mehr in eine Elegie, an der ich allmählich Gefallen fand«, hieß es in Genazinos Vorgängerroman Bei Regen im Saal (2014). Und es hätte tatsächlich auch als treffendes Statement über den Radiosprecher gepasst.

»Ich weiß selber keinen richtigen Grund dafür, warum ich jetzt auf einmal Erfolg habe«, hatte Wilhelm Genazino 2004 in einem Interview nach Erhalt des Georg-Büchner-Preises erklärt. Er versucht, unserer Zeit eine Heiterkeit des Unerträglichen abzugewinnen und begegnet der Tragik des Alltags mit der Komik seines ureigenen Blicks auf die Dinge. Dies hat Wilhelm Genazino über viele Jahre und viele Bücher zur Meisterschaft perfektioniert. Und das Büchlein über den »liebesblöden« Radiosprecher aus der »Frauenverwelkungsanstalt« liefert den neuerlichen eindrücklichen Beweis dafür.

| PETER MOHR

Titelangaben
Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns
München: Carl Hanser Verlag 2016
155 Seiten, 18.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| mehr zu Wilhelm Genazino in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Von Affe bis Zebra: 26 Lieblingstiere

Nächster Artikel

Kommissar Daquin und die Büchse der Pandora

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Ich will mein eigener Freund sein

Roman | André Heller: Das Buch vom Süden »Es ist die Geschichte eines Menschen auf der Suche nach der angstlosesten Form seiner selbst.« Mit diesen Worten hat André Heller kürzlich seinen eigenen Roman Das Buch vom Süden, das soeben im Wiener Zsolnay erschienen ist, beschrieben. Mit nun fast 70 Jahren hat der Wiener Universalkünstler (Chansonnier, Theatermacher, Gartenkünstler, Entertainer und Feuerwerker) nach den Erzählungen Schlamassel (1993) und Wie ich lernte, bei mir selbst zu sein (2008) ein stark autobiografisches Sehnsuchtsbuch vorgelegt, eine pathetische Hymne auf das Unkonventionelle. Gelesen von PETER MOHR

Wenn das Schädeldach brennt

Roman | António Lobo Antunes: Ich gehe wie ein Haus in Flammen Alljährlich im Herbst, wenn das Rätselraten um die Nobelpreiskandidaten in die heiße Phase geht, wird seit rund 15 Jahren sein Name stets ganz hoch gehandelt. Der 74-jährige portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes, der viele Jahre als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Lissabon arbeitete, hat nun seinen 25. Roman Ich gehe wie ein Haus in Flammen vorgelegt, der sich wie eine Summe seines bisherigen Oeuvres liest. Von PETER MOHR

Fremd in der Heimat

Roman | Andreas Maier: Die Straße »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.« Diese Verse von Wilhelm Müller, die in Franz Schuberts Winterreise eingeflossen sind, beschreiben treffend die inneren Befindlichkeiten des jungen Protagonisten in Andreas Maiers neuem Roman Die Straße. Von PETER MOHR

Ein altes Verbrechen

Roman | Håkan Nesser: Der Verein der Linkshänder

Nachdem der Münchner Friedrich Ani in seinem letzten Roman ›All die unbewohnten Zimmer‹ schon auf Teamarbeit setzte, lässt nun auch Schwedens Krimi-Altmeister Håkan Nesser seine beiden bekanntesten Serienhelden zusammen ermitteln. In ›Der Verein der Linkshänder‹ versuchen sich Ex-Kommissar Van Veeteren – zehn Auftritte zwischen 1993 und 2003 – und der etwas jüngere Gunnar Barbarotti – fünf Auftritte zwischen 2006 und 2012 – an einem Fall, der eigentlich längst geklärt schien und zu den Akten gelegt war. Aber der Mann, den man 1991 für den flüchtigen Mörder von vier Personen hielt, taucht 20 Jahre später plötzlich wieder auf - als unweit des Tatorts vergrabene Leiche. Von DIETMAR JACOBSEN

Der Serienmörder und das fremde Kind

Roman | Mi-Ae Seo: Der rote Apfel

Sonkyong ist Kriminalpsychologin. Und trotzdem überrascht, als der im Todestrakt des Seoul Detention Center einsitzende Serienmörder Lee Byongdo nur mit ihr sprechen will. Derweil muss sie sich auch zu Hause an eine neue Situation gewöhnen: Nach dem Tod seiner Schwiegereltern bringt ihr Mann, der Arzt Chaesong, seine 10-jährige Tochter Hayong aus erster Ehe in ihrem gemeinsamen Haushalt unter. Und das Mädchen scheint alles andere als pflegeleicht zu sein. Von DIETMAR JACOBSEN