Ein vertracktes Juwel

Comic | Neil Gaiman (Text), James J. Williams III (Zeichnungen): Sandman Ouvertüre

Wenn eine erfolgreiche Geschichte zu Ende erzählt ist, wenden sich diejenigen, die an dieser Geschichte noch mehr zu verdienen hoffen, gerne Nebenfiguren (Spin-Offs) oder der Entstehungsgeschichte der Helden zu (Prequels). Das kann gut gehen, kann aber auch zu einer abgeschmackten Banalisierung eines Mythos werden, wie die ›Before Watchmen‹-Reihe eindrucksvoll bewiesen hat. Hat man also Grund zur Sorge, wenn Neil Gaiman jetzt in ›Sandman – Ouvertüre‹ die Vorgeschichte seiner legendären Comicreihe verfasst? BORIS KUNZ kann an dieser Stelle beruhigen.

Ein Kind der Zeit und der Nacht

Neil Gaiman (Text), James J. Williams III (Zeichnungen): Sandman Ouvertüre Band 1Es waren die späten 80er Jahre, als der Newcomer Neil Gaiman für das Erwachsenenlabel des Comicverlages DC eine Reihe schuf, die heute zu den modernen Klassikern des Comic gehört. Noch viel radikaler als sein Kollege Alan Moore mit dem im gleichen Comicuniversum ansässigen »Swamp-Thing« schuf Gaiman aus Rudimenten einer kaum bekannten Superheldenfigur namens »Sandman« einen völlig neuen Charakter: Dream (oder auch Morpheus) ist der Herr des Traumreiches, der zu Beginn der Erzählung (›Präludium und Nocturni‹) von einem Schwarzmagier gefangen genommen, in eine Flasche gebannt und 80 Jahre lang festgehalten wird. Die Abwesenheit von Dream bringt das Träumen ganz schön durcheinander, was auch Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat, schließlich verbringt jeder von ihnen einen guten Teil seines Lebens im Traumreich. Schließlich kann Dream sich befreien, muss sich anschließend auf die Suche nach seinen verloren gegangenen magischen Artefakten machen und sein Reich neu sortieren. Das führt zu allerhand Komplikationen, während derer Dream beispielsweise einen Streit mit Luzifer anzettelt, wodurch die Hölle in seinen Besitz übergeht.

Nach und nach, und immer beiläufig, so dass man kaum erahnen kann, dass am Ende alles zu einem großen Bogen zusammenlaufen wird, entblättert Gaiman in den folgenden Jahren in mehreren abgeschlossenen Erzählzyklen (in 10 dicken Bänden zusammengefasst) die Welt des Sandman. Wir lernen seine Geschwister kennen, die sog. Ewigen, die wie Dream verkörperter Aspekte des menschlichen bzw. jeglichen beseelten Daseins sind (und jegliches Dasein ist in diesem Universum beseelt): Der wenig zugängliche Destiny, die eitle und intrigante Desire, die plumpe Despair, die zuckersüße und herrlich verwirrte Delirium, der pragmatische Destruction, der seinen Job vor vielen Jahren hingeschmissen hat, und schließlich die äußerst sympathische Death. Den Tod nicht als düsteren Sensenmann, sondern als liebenswertes Gothic-Girl und Everybodys Darling zu inszenieren war einer der wesentlichen Kunstgriffe Gaimans, die für die große Popularität der Serie gesorgt haben.

Diese hat sich im Laufe der Zeit vom teilweise sehr düsteren okkulten Horror zur einer phantastischen, poetischen und allegorischen Geschichte über das Träumen und das Geschichtenerzählen entwickelt. Der legendäre Sänger Orpheus aus der griechischen Mythologie spielt darin ebenso seine Rolle wie die nordischen Götter Odin, Thor und Loki oder auch William Shakespeare, dessen »Sommernachtstraum« ein Geschenk von Dream an die Elfenkönigin Titania war. Und weil wir uns nach wie vor im DC-Universum befinden, haben auch Superman oder Batman gelegentliche, kurze Gastauftritte.

Auf der einen Seite also ist die Erzählung so weit gefasst, dass sie die gesamte Menschheitsgeschichte umspannt und eigentlich (wie wir in der später hinzugekommenen Geschichtensammlung ›Ewige Nächte‹ erfahren) sogar weit darüber hinausgeht: Die Ewigen existieren länger als sämtliche Götter und waren schon mit unserer Sonne befreundet, da hatte diese noch auf keinem ihrer Planeten Leben zum Blühen gebracht. Auf der anderen Seite gibt es tatsächlich eine Art Ende – oder zumindest eine Zäsur, mit der Gaiman in den Bänden ›Die Gütigen‹ und ›Das Erwachen‹ seinen Zyklus abrundet. Die Ewigen altern zwar nicht, sind aber keineswegs unsterblich. Zwar werden sie nach ihrem »Tod« – der eher eine Art Metamorphoseprozess ist – durch eine andere Version ihrer selbst ersetzt, doch diese unterscheidet sich wesentlich von ihrem Vorgänger. Daher war die Geschichte von Morpheus klar abgeschlossen, in einem alle Stränge zusammenführenden Finale, auf das die Reihe unmerklich aber konsequent von Anfang an zugesteuert hat.

Nach diesem Ende also ein Prequel. Was geschah unmittelbar vor den Ereignissen in ›Präludien und Nocturni‹ – bevor Dream im Jahr 1916 von einem schwarzen Magier gefangen genommen wurde – und wie passt diese Geschichte ins große bunte Mosaik des ›Sandman‹-Universums? Wie beginnt man die Geschichte eines Ewigen, der ebenso lange existiert, wie das Universum selbst?

Am Ende ein Anfang

Es ist typisch für die Ironie und Poesie eines Neil Gaiman, die Geschichte mit dem Tod des Sandman zu beginnen. Allerdings ist es nicht der uns bekannte Dream, der hier stirbt, sondern eines seiner zahlreichen Seinsaspekte, das einen gewaltsamen Tod durch einen wahnsinnig gewordenen Stern erfährt. (Auch kosmische Ereignisse wie eine Supernova oder ein schwarzes Loch existieren in diesem Universum nicht ohne eine personifizierte, geistige Komponente). Nun ist das für den durchaus selbstverliebten Dream und all seine Daseinsaspekte eine nicht nur neue, sondern auch nicht hinnehmbare Situation. Dream bricht also auf, um den wahnsinnigen Stern zur Rede zu stellen. Dass dessen Wahnsinn gerade wild um sich greift und das gesamte Universum von der endgültigen Auslöschung bedroht ist, scheint Dream dabei nur am Rande zu interessieren. Das ändert sich erst, als er erfahren muss, dass er selbst Mitschuld an diesem schrecklichen Ereignis trägt.

Auch als erfahrener ›Sandman‹-Leser braucht man eine Weile, um in diese schwer zu greifende Geschichte voller rätselhafter Poesie einzusteigen. Man muss sehr aufmerksam lesen, dann entfaltet sich (eigentlich erst so richtig im zweiten Band) worum es überhaupt geht; dann jedoch entblättert sich eine faszinierende Geschichte in der Dream unter anderem auch auf seine Eltern trifft. Geschickt verknüpft Gaiman völlig neue Elemente mit bereits bekannten Motiven aus den früheren Alben und schafft es am Ende tatsächlich, dass die Geschichte sich anfühlt, als wäre sie schon immer Teil des ›Sandman‹-Universums gewesen.

Das hohe Abstraktionslevel der Geschichte schlägt sich auch in einer konsequenten, außergewöhnlichen grafischen Ausgestaltung nieder: Der ungeheuer talentierte Zeichner James H. Williams III macht aus jeder einzelnen Seite ein besonderes Kunstwerk, mit verschachtelten Panelaufteilungen, die je nach Situation architektonischen Strukturen, geometrischen Figuren oder organischen Formen, wie Blütenblättern oder Spiralnebeln nachempfunden sind. Das sieht oft bombastisch aus, stellt das Auge aber oft vor die Herausforderung, sich in erst einmal seinen Weg durch die Seiten zu suchen, sodass man sich beim Lesen manchmal ein größeres Format wünschen würde. Um einem Plot gerecht zu werden, in dem es unter anderem darum geht, dass alles im Universum vielschichtige Aspekte hat, kommen neben der wahnwitzigen Seitenaufteilung auch alle möglichen Zeichentechniken zur Anwendung: Manche Figuren sind nur mit Bleistift gezeichnet, andere aquarelliert, wieder andere sehen aus, als entstammten sie der Feder anderer großer Comiczeichner wie Moebius, Kirby oder Dave Gibbons.

Neil Gaiman (Text), James J. Williams III (Zeichnungen): Sandman Ouvertüre Band 2Grafisch hebt J.H. Williams III die Reihe damit noch einmal auf ein ganz neues Level. Der Charme der alten Bände bestand eher im Versuch verschiedener Zeichner, dem klassischen Artwork von Horror- und Superheldencomics einen poetischeren Aspekt abzuringen. Das ist auch insofern ein großer Fortschritt, weil Gaiman – bei all seinen Qualitäten als Autor – zwar einen großartigen Sinn für Poesie und Sprache hatte, aber einen weniger großen Sinn dafür, den Zeichnern seiner Geschichten einen gewissen Raum zu lassen. Gerade in den späteren Jahren wurden die Comics durch zahlreiche Dialogszenen geprägt, sowie durch literarische Voice-Overs, die den Zeichnern wenig Raum ließen, der Geschichte neue Aspekte hinzuzufügen und sie oftmals zu mehr oder weniger eigenwilligen Illustratoren als zu gleichwertigen Erzählern machten. Nur besonders experimentierfreudige Zeichner wie Bill Sienkiewicz haben es geschafft, Gaimans Vorlagen zu nutzten, um wildeste Collagetechniken auszuprobieren, die auf ihre ganz eigene Weise neben den Texten existierten. Williams hat es nun tatsächlich geschafft, die Zeichnungen auf das Niveau der Texte zu heben, ohne sie zum Selbstzweck zu machen. (Spannend ist in diesem Zusammenhang auch ein Blick in das sehr ausführliche und liebevolle Bonusmaterial – das allerdings auch dazu dient, auf zwei Alben auszudehnen, was auch in einem Platz gehabt hätte).

Die »Ouvertüre« ist also keine klassische Geldschneiderei, die ein erfolgreiches Franchise ausschlachtet, sondern ein weiteres großartiges ›Sandman‹-Kapitel – für Neueinsteiger nur bedingt geeignet, ohne gewisse Vorkenntnisse über die Figuren ist die Geschichte nur schwer zu greifen. Wer den ›Sandman‹-Zyklus schon kennt, für den wäre die Ouvertüre tatsächlich ein spannender Einstieg für eine neuerliche Lektüre. Damit hat Neil Gaiman seinen Fans ein ebenso funkelndes wie vertracktes Juwel geschenkt: Die Ouvertüre schafft es tatsächlich, die lineare ›Sandman‹-Erzählung in eine Endlosspirale zu verwandeln: Man kann die Geschichte erst lesen, wenn man den Rest kennt, doch wenn man sie liest, will man eigentlich gleich wieder von vorne einsteigen!

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Neil Gaiman (Text), James J. Williams III (Zeichnungen): Sandman Ouvertüre (Sandman: Overture 1- 6) Band 1 / Band 2
Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff
Stuttgart: Panini Verlag 2015 / 2016
2 Bände je 124 Seiten, je 16,99 Euro
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Reinschauen
| Homepage des Zeichners
| Homepage von Neil Gaiman
| ›Sandman‹ auf Wikipedia

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