/

Von Tod und Tofu

Roman | Christine Lehmann: Allesfresser

Lisa Nerz ohne ihre berühmte Lederjacke? Da muss etwas ganz Besonderes geschehen sein. Ist es auch: Im Internet wird zum Mord aufgerufen. Tod denen, die töten! Denn: »Tiere zu essen ist nicht weit vom Kannibalismus entfernt.« Und warum sollte der, der den Tod von Millionen Kreaturen gutheißt, nicht ebenfalls über den Jordan geschickt werden? Christine Lehmann ist mit ihrem elften Lisa-Nerz-Krimi wieder ein provokantes Stück Literatur gelungen. Nach seiner Lektüre schaut man die Fleischpakete im Supermarkt jedenfalls mit anderen Augen an. Von DIETMAR JACOBSEN

1211_Lehmann_Allesfresser_Umschlag_1-Aufl.inddEin Fernsehkoch ist verschwunden: Hinni Rappküfer. Der hat in seiner sonntäglichen Live-Sendung aus Schloss Favorite in Ludwigsburg immer gern mit Fisch und Fleisch hantiert. Und nebenbei – während er Sahne schlug, Loblieder auf die gute Butter sang und Kalbsschnitzel durch die Panade zog – auch noch ordentlich abgelästert gegen Vegetarier und Veganer.

»Ich wurde hineingeboren in eine traditionsreiche Vegetarierfamilie. Mein halbes Leben bin ich krank gewesen. Dann habe ich umgestellt auf eine besonders fleisch- und fetthaltige Kost.« Und schwupp: Wurde er zwar zum Fernsehliebling, konnte es aber nicht verhindern, dass er am Ende, in kleine handliche Portionen zerteilt und eingeschweißt, in den Kühlregalen von Supermärkten rund um Stuttgart landete. Kommentar von Lisa Nerz: »Ich ging gepflegt eine Runde kotzen.«

Ein Fernsehkoch ist verschwunden

Richtig essen und das Richtige essen – Christine Lehmann hat sich für das neueste Abenteuer ihrer taffen Heldin Lisa Nerz auf ein hart umkämpftes Terrain vorgewagt. T-Bone-Steak oder Tofu? Ente mit Kirschen oder Kirschen ohne Ende (aber nur, wenn sie freiwillig vom Baum gefallen sind)? Couscous oder Kotelett? Das sind die Fragen, um die eine Menge Streit entbrannt ist. Und seit in den entsprechenden Foren des Internets jeder seine Meinung kundgeben kann, tobt dort der Kampf gegen die Omnivoren, jene Allesfresser, die nicht stört, dass ihre Nahrung sowohl eine Mutter wie auch ein Gesicht hat, immer heftiger. Auf ins Gefecht gegen das Geschmeiß, das den Planeten leerfrisst und dafür auch noch freudig mit der eigenen Gesundheit zahlt!

Ein Veganblog im Netz hat die Stuttgarter Staatsanwaltschaft in Sachen Rappküfer besonders nachdenklich gemacht. Sollte die anonyme Verfasserin sich ihre Rachefantasien an den Fleisch essenden Mitmenschen nicht nur ausgedacht, sondern an einem so prädestinierten Opfer wie dem verschwundenen Fernsehkoch etwa auch in die Tat umgesetzt haben? Jedenfalls zieht sie online mächtig vom Leder. Schwadroniert von »Menchenschlachthäusern« und »Menschenbauernhöfen«, auf denen gewissenlose Fleischfresser selbst zu Nahrung verarbeitet werden. Da braucht man jemand, der undercover in die entsprechenden Zirkel eindringt, um Gewissheit zu bekommen. Und wer wäre da geeigneter als Staatsanwalt Richard Webers von Natur aus neugierige Freundin Lisa Nerz.

Unter Ernährungsideologen

Und schon zieht sie los, denn sie ist ja selber neugierig. Setzt sich in Veggieläden zu den ganz Harten, schließt Bekanntschaft mit militanten Tierschützern und kommt beinahe um bei einer Pferdebefreiung. Fast beiläufig und die Spannung darauf, wer nun tatsächlich hinter der Entführung und dem Mord an Rappküfer steckt, nicht mindernd, werden Für und Wider von Vegetarismus, Veganismus und herkömmlichen Ernährungsformen diskutiert. Und das alles mit – wie bei Christine Lehmann nicht anders zu erwarten war – teilweise ausgesprochen drastischen Beispielen.

Eines freilich wird auch schnell klar: Da, wo der Kampf für die »richtige« Ernährung militant wird, als neuer Ismus totalitaristische Formen annimmt und alles andere in Acht und Bann tut außer der eigenen Meinung, hört das Verständnis von Lisa auf. Dass jeder seinen eigenen Weg jenseits von Indoktrination und zunehmend aggressiver geführten, rechthaberischen Kämpfen um die eine und einzige Wahrheit in Sachen Essen finden muss, ist der Schluss, zu dem das Buch seine Leser letzten Endes lenkt.

Das letzte Wort hat Lisas Mutter

Auf durchaus unterhaltsame Weise taucht Christine Lehmann in Allesfresser in die Diskurse ein, die gegenwärtig ums Essen und die Tierethik geführt werden. Da sie sich immer hinter ihrer Heldin Lisa Nerz verstecken kann, die ja sowohl ein bisschen radikal wie auch ein bisschen verrückt, aufs Ganze gesehen aber absolut liebenswert – und im Übrigen ab sofort auch richtig verheiratet – ist, darf sie auch Fragwürdiges in die Debatte werfen. Die wird in ›Allesfressser‹ aufgearbeitet, ohne dass der Roman je langweilen würde. Das letzte Wort freilich hat Lehmann für Lisas Mutter reserviert. Es lautet: »Was ist nur aus der Welt geworden, dass wir uns so sehr vor unserem Essen fürchten müssen?«

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Christine Lehmann: Allesfresser
Hamburg: Argument Verlag 2016
252 Seiten, 12.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Voriger Artikel

Wenn Wahrheit Chaos bringt

Nächster Artikel

Leben und Sterben in L.A.

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Mit Schirm, Charme und dem kaiserlichen Geheimdienst

Roman | Matthias Wittekindt und Rainer Wittkamp: Fabrik der Schatten

Als die Polizei nach der Kollision eines Güterzuges mit einem Pkw nahe der Stadt Bingen am Rhein feststellt, dass der Fahrer des Autos nach dem Unfall mit vier Schüssen geradezu hingerichtet wurde, mischt sich sofort der militärische Nachrichtendienst des Großen Generalstabs aus Berlin in die Angelegenheit ein. Man schreibt das Jahr 1910 und die militärische Elite des Kaiserreiches ist fest davon überzeugt, dass ein Krieg in der Luft liegt. Deshalb wittert man überall Spione und hat in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts alle Abteilungen, die sich mit der Strategie zukünftiger Siege sowie der Spionageabwehr beschäftigen, massiv aufgestockt. Das hat auch Major Albert Craemer, einst bei der Kriminalpolizei tätig, zu einem neuen Job verholfen. Als Leiter der Frankreich-Abteilung des Geheimdienstes, die von dem Zwischenfall in Bingen besonders betroffen ist, weil die Insassen des Pkw offensichtlich Franzosen waren, begibt er sich gemeinsam mit seiner jungen Mitarbeiterin Lena Vogel sofort vor Ort. Von DIETMAR JACOBSEN

Die Amerikaner kommen

Roman | Anthony Horowitz: Der Fall Moriarty Ganz London ist in Aufruhr – von der Unterwelt bis zum Oberhaus. Offenbar hat ein Mann namens Clarence Devereux den Tod von Professor Moriarty in den Reichenbachfällen genutzt, um sich an die Spitze der Verbrecherwelt der Themsestadt zu setzen. Devereux kommt aus New York und einer, der ihn im Auftrag der Pinkerton-Agentur von dort nach Europa gefolgt ist, weiß, was das bedeutet: »Der amerikanische Kriminelle hat kein Urteilsvermögen und keinen Sinn für Loyalität.« Wahrscheinlich mordet er sogar in der heiligen Stunde des Five’o’Clock-Teas – eine ganz neue Qualität von Verbrechen sucht die britische

Kommissar Daquin und die Büchse der Pandora

Roman | Dominique Manotti: Schwarzes Gold Nachdem zuletzt in der Ariadne-Reihe des Hamburger Argument Verlages vor allem ältere Bücher von Dominique Manotti erschienen sind, hat man mit Schwarzes Gold nun den jüngsten Roman der erst spät zum Schreiben gekommenen Wirtschaftshistorikerin auf Deutsch herausgebracht (Übersetzerin ist die im Verlag für Lektorat und Produktion verantwortliche Iris Konopik). Er besitzt alle Qualitäten, für die man seine Autorin seit dem Erscheinen ihrer Romane hierzulande rühmt, hat 2016 in Frankreich den Grand prix du roman noir gewonnen und präsentiert mit Théo Daquin eine Hauptfigur, die Manotti-Leser bereits kennen. Von DIETMAR JACOBSEN

Zwischen Korruption und Konfuzianismus

Roman | Qiu Xiaolong: 99 Särge In seinem siebten Fall 99 Särge verschlägt es Oberinspektor Chen Cao aus Shanghai unter die Netzbürger. An dem dubiosen Selbstmord des Direktors der Wohnungsbaubehörde der Millionenstadt sollen Aktivisten im Internet nicht unschuldig sein. Als dann auch noch ein mit dem Fall befasster Polizist am helllichten Tag überfahren wird, beginnt Chen Nachforschungen anzustellen, ohne dazu legitimiert zu sein. Von DIETMAR JACOBSEN

Mutti! Entführt!

Film | TV: TATORT – Fette Hoppe (MDR), 26.12. Man sitzt davor und überlegt noch, ob man lachen soll. Trockene Dialoge. Das um einen Bruchteil hinausgeschobene Zögern, bevor geredet wird. Schräge Figuren. »Die Frau strahlt so eine unbestimmte Zugänglichkeit aus – was sicher manchen Mann moralisch erneuern könnte«. Hans Bangen (Wolfgang Bauer) sieht aus wie ein Hans im Glück, der ein Schwein gegen den Erfolg im Casting getauscht hat. Bogdanskis Ohren sind nicht lustig, aber gut sichtbar und originell. Von WOLF SENFF