Melancholischer Pessimist mit Humor

Menschen | 100. Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer

Vor 100 Jahren (am 9. Dezember) wurde der Georg-Büchner-Preisträger Wolfgang Hildesheimer geboren. Von PETER MOHR

hildesheimer»Universales Misstrauen ist für mich etwas Selbstverständliches«, hatte der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer 1986 in einem Interview erklärt. Tatsächlich gehörte der am 9. Dezember 1916 in Hamburg als Sohn eines jüdischen Chemikers geborene Autor, der in den 1930er Jahren mit seinen Eltern über die Schweiz und England nach Palästina emigrierte, wo er eine Tischlerlehre absolvierte und später Möbel-Design und Innenarchitektur studierte, zeitlebens zu den wortmächtigen Kulturpessimisten. Und erst spät hat Hildesheimer nach einer wahren Odyssee mit den Stationen Hamburg, Berlin, Kleve, Nijmegen, Mannheim, England, Jerusalem, London, Bretagne und Cornwall in der Schweiz eine Heimat gefunden.

Bereits 1966, als ihm der Georg-Büchner-Preis verliehen wurde, hegte Hildesheimer Zweifel daran, ob »es in zehn Jahren noch Literatur und Literaturpreise geben wird.« Mit zunehmendem Alter wuchs die Skepsis des Ehrenbürgers der Schweiz, der 1952 mit seinem Geschichtband Lieblose Legenden sein literarisches Debüt gegeben hatte. Nach Erscheinen seines lyrischen Prosawerkes Tynset (1965), das um die Gedanken eines Schlaflosen in einer endlosen Nacht kreist, schrieb der Kritiker Reinhard Baumgart (charakteristisch für das gesamte Oeuvre): »Melancholie und Humor stehen bei ihm auf Duzfuß.«

Kaum noch bekannt ist, dass Hildesheimer sich gelegentlich, aber durchaus gekonnt auf jenem dichterischen Terrain bewegte, dessen Grenzen später von HC Artmann und Ernst Jandl abgesteckt wurden: »Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt! / Rich deine Machnung mit dem Vommel, Hegt! / Hoch deine Vichnung mit dem Memmel, Ragt!«

Hörspiele (Prinzessin Turandot), Theaterstücke (Die Verspätung), Romane (Masante), eine Biographie über Mozart (1977/mehr als 300 000mal verkauft) und über den fiktiven englischen Edelmann und Kunsthistoriker Marbot (1981) stammen aus der Feder des großen Skeptikers, der sich 1984 endgültig aus dem Literaturbetrieb zurückzog.

Zu diesem Schritt, der seine Popularität noch forcierte, meinte Hildesheimer: »Natürlich hatte dieser Entschluss damit zu tun, dass ich keine Zukunft für die Literatur sehe. Angesichts der Katastrophen, die in der Welt geschehen, hat es mir die Worte verschlagen.«

In diesen Kontext passte auch Hildesheimers Engagement für die Umweltschutzorganisation »Greenpeace«, deren Arbeit er mit großzügigen finanziellen Zuwendungen unterstützte. Hildesheimer sah sich selbst als »gemäßigten Linken«, obwohl er sich real-politisch so gut wie nie engagierte, »weil mir die Gabe zum homo politicus« fehlte. Und doch konnte er auch handfest wettern und Position beziehen. »Mein Gott bin ich froh, dass ich in diesem Mistland nicht mehr wohne«, schrieb Hildesheimer 1963 in einem Brief an Hermann Kesten. Sechs Jahre zuvor hatte er Deutschland endgültig den Rücken gekehrt.

In seinen letzten Lebensjahren kehrte Hildesheimer zu seinen künstlerischen Anfängen zurück: Malerei, Collagen, Graphiken und Zeichnungen, die auf einer Ausstellung der Berliner Akademie anlässlich seines 70. Geburtstages präsentiert wurden, waren sein bevorzugtes künstlerisches Medium.

In der Abgeschiedenheit seiner Graubündener Wahlheimatgemeinde Poschiavo ist Wolfgang Hildesheimer am 21. August 1991 im Alter von 74 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes gestorben. Dem öffentlich artikulierten Wunsch vieler Kritiker und Freunde, sein Schweigen zu brechen, war er nicht mehr nachgekommen.

Die Veröffentlichung einer siebenbändigen Gesamtausgabe im Suhrkamp Verlag erlebte Hildesheimer nicht mehr. Sie erschien erst zu seinem 75. Geburtstag – knapp drei Monate nach seinem Tod. Pünktlich zum 100. Geburtstag sind nun erstmals die gesammelten Briefe an seine Eltern veröffentlicht worden. Vor allem die frühen Dokumente aus den 1930er Jahren gewähren Einblicke in die Motive für Hildesheimers spätere künstlerische Arbeit. Er war ein Solitär in der Nachkriegsliteratur. Eine singuläre Stimme, ein bedeutender Dichter – allerdings ohne nennenswertes Lesepublikum.

| PETER MOHR

Titelangaben
Wolfgang Hildesheimer: Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts
Die Briefe an die Eltern
2 Bände hgg. von Volker Jehle
Berlin: Suhrkamp Verlag 2016
1584 Seiten. 78.- Euro
| Erwerben Sie diese Bände portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

2 Comments

  1. Entschuldigung. Immerhin dann doch „Hörspiele (Prinzessin Turandot), Theaterstücke (Die Verspätung).“ Weshalb diesem großen Literaten ein paar Zeilen mehr widmen?

  2. Leider ist der bedeutende Hörspiel- und Theaterautor nicht einmal im Ansatz erwähnt. Gefreut habe ich mich über das Appetithäppchen der Lesepreobe. Danke.

Schreibe einen Kommentar zu Didier Calme Antworten abbrechen

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Was ist ein Foodtrend?

Nächster Artikel

Welcome To Sideways: New Album Reviews

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Reise ins Innere

Kurzprosa | Thomas Hürlimann: Abendspaziergang mit dem Kater

Die Literatur war für Thomas Hürlimann immer auch ein Spiegel, durch den er auf seine eigene Vita und die bewegte Familiengeschichte schaute. Sein 1994 gestorbener Vater Hans war als Bundespräsident und Innenminister ein profilierter Schweizer Spitzenpolitiker. Um frei schreiben zu können, hatte Hürlimann, der im Dezember seinen 70. Geburtstag gefeiert hat, sogar zwischenzeitlich die Schweiz verlassen und war nach Berlin übergesiedelt. PETER MOHR nimmt uns auf Hürlimanns Abendspaziergang mit dem Kater mit.

Umbrüche

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Umbrüche

Nein, sagte Farb, man verstehe diese Welt nicht mehr, sie sei so rapide verändert worden, und es sei gar nicht sicher, daß der Mensch dem standhalte.

Er tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman gähnte.

Es sei gut, sagte er, daß der Mensch an seinen Gewohnheiten festhalte, unbeirrbar festhalte.

Annika lächelte. Niemand in der Stadt, sagte sie und warf einen liebevollen Blick auf Farb, backe besseren Pflaumenkuchen.

PETM

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: PETM

Auch der Einbruch der Eiszeit habe die Anzahl der Lebewesen drastisch reduziert, sagte Anne, immer wieder gebe es Brüche, die die Dinge durcheinanderwerfen, daß man nichts wiedererkenne.

Das Paläozän/Eozän-Temperaturmaximum müsse ein extrem tiefgreifender Bruch gewesen sein, sagte Tilman, es werde von der Forschung auf etwa 55,8 Millionen Jahre vor unserer Zeit datiert, habe sich über rund zweihunderttausend Jahre hingezogen und sei, gemessen an der Erdgeschichte, dennoch eine flüchtige Phase gewesen, die man ignorieren könnte, wären ihre Auswirkungen nicht so verheerend gewesen.

Für den Menschen sind zweihunderttausend Jahre eine endlos lange Zeit, sagte Anne und lächelte. Sie legte sich eine Pflaumenschnitte auf und schenkte Tee nach.

Tilman nahm einen Löffel Schlagsahne, es war ein angenehmer Sommmertag.

Ausgespielt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausgespielt

Gramner habe das Thema satt, er würde sich darüber amüsieren, sagte der Ausguck, lachte, nahm kurz Anlauf und schlug einen Salto.

Sich so balanciert zu bewegen, so elegant, so scheinbar schwerelos, fragte Thimbleman, wie sei das möglich.

Der Ausguck lachte und erinnerte nur wieder an Gramners Worte: Eine Epoche tituliere sich als ›modern‹ und erwecke den Eindruck, alle früheren Zeitalter gehörten in die Mottenkiste.

Irre. Ein Marketing, das Maßstäbe setzt.

Desillusioniert, nicht verbittert

Kurzprosa | Helga Schütz: Die Kirschendiebin Helga Schütz, die Anfang Oktober ihren 80. Geburtstag feierte, hat sich seit Jahr und Tag als poetische Dokumentaristin des ostdeutschen Alltags einen Namen gemacht. Äußerst subtil hat sie in ihren Romanen (angefangen mit ›In Annas Namen‹, 1986) darüber hinaus ihre eigene Biografie eingeflochten. An dieser bewährten Konzeption hat die in Niederschlesien geborene und später in der DDR lebende Autorin auch in ihrem aktuellen Erzählwerk ›Die Kirschendiebin‹ festgehalten. Von PETER MOHR