Kinderbuch | Luc Blanvillain: Tagebuch eines Möchtegern-Versagers
Eigentlich doch toll, wenn einem in der Schule alles zufliegt. Oder? Der zwölfjährige Nils hat da eine ganz andere Geschichte zu erzählen. Von ANDREA WANNER
Nils ist hochbegabt. So weit, so gut. Oder schlecht – wie man’s nimmt. Gut, weil Nils ohne Probleme die Schule meistern könnte. Schlecht, weil es im Leben dann ganz anders läuft. Denn die gewöhnlichen Dinge, die einen Zwölfjährigen normalerweise beschäftigen, wie Fernsehen oder Fußball spielen, finden bei Nils nicht statt. Seine Eltern haben sich in den Kopf gesetzt, die Begabung ihres Sohnes weiter zu fördern, indem sie alle Ablenkungen aus seinem Alltag verbannen.
In seiner Not beginnt Nils, Tagebuch zu schreiben und einen Plan zu entwickeln, wie er dem System entkommen kann. Der Schulwechsel an eine neue Schule, die Hochbegabte besonders fördert, bietet dazu eine Gelegenheit. Nils kennt dort niemanden und keiner kennt Nils. Er nutzt die neue Situation, um zum Versager zu werden. Das bedeutet, er baut in Tests absichtlich Fehler ein, stellt sich dumm, täuscht Begriffsstutzigkeit vor und macht sich somit selbst zum Trottel. Keine leichte Aufgabe, wenn man so schlau ist wie Nils. Richtige Antworten geben fällt ihm wesentlich leichter, als sich falsche auszudenken. Es scheint zu funktionieren. »Alles läuft bestens. Meine Noten werden immer schlechter« notiert er in sein Tagebuch. Aber ganz reibungslos lässt sich das Vorgenommene dann doch nicht umsetzen.
Luc Blanvillain ist selbst Lehrer und kennt das Beziehungsgeflecht Schule-SchülerInnen-Eltern nur zu gut. Pointiert, überspitzt und mit vielen Slapstickszenen lässt er Nils erzählen, beobachten, kommentieren und werten. Flankierend stellt er dem Jungen Klassenkameraden an die Seite, mit denen es zu neuen, ungewohnten Situationen kommt: Mona, das erste Mädchen ins seinem Leben, für das er sich wirklich interessiert und die ihm Nachhilfe gibt, weil er ihr leid tut, Basile, der mit dem Lehrstoff tatsächlich überfordert ist und schließlich Engelbert, der eigentliche Konkurrent – zumindest, was die intellektuellen Fähigkeiten anbelangt. Nils muss eine Position finden. Die gespielte und die eigentliche Rolle entwickeln sich dabei immer weiter auseinander und stellen ihn vor Probleme, die auch für Hochbegabte eine Herausforderung darstellen. Soziale Kompetenzen sind noch mal ein ganz anderes Feld. Eines, in dem sich der Junge auch innerhalb der Familie neu orientieren muss. Der Konflikt mit seinen Eltern ist eine Sache, die Dauerauseinandersetzung mit der älteren Schwester eine ganz andere. Hier ist mehr Solidarität tatsächlich ein neuer, erfolgreicher Weg.
Hinter der amüsanten Geschichte schimmern an vielen Stellen echte Probleme durch. Zu ehrgeizige Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, die Kinder in Schubladen stecken, statt sich wirklich mit ihnen zu beschäftigen und überforderte Kinder ohne Freiräume sind nur einige davon. Bei Nils kommt einiges zusammen. Der Zwölfjährige ist im Leben dort angekommen, wo die Ablösung von den Eltern beginnt, eine Phase, in der man anfängt, eigene Positionen zu suchen und zu finden. Manchmal braucht es dazu vielleicht Tricks, auf lange Sicht wird es nur helfen, tatsächlich zu sich selbst, seinen eigenen Fähigkeiten und Wünschen zu stehen und sich auch Konflikten zu stellen. Nils ist dem am Ende auf jeden Fall ein Stück nähergekommen. Ihn bei der Lektüre seines Tagebuchs auf diesem Weg zu begleiten stellt für alle Leser eine ebenso unterhaltende wie spannende Sache dar.
Titelangaben
Luc Blanvillain: Tagebuch eines Möchtegern-Versagers
(Journal d’un nul débutant, 2014). Aus dem Französischen von Maren Illinger
Frankfurt: Fischer KJB 2017
156 Seiten. 12,99 Euro
Kinderbuch ab 10 Jahren
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