Eine Welt ohne Bücher

Jugendbuch | Traci Chee: Ein Meer aus Tinte und Gold

»Es war einmal und es wird eines Tages sein.« So fangen alle Geschichten an. Komplexe Fantasywelten zu erdenken ist eine Kunst, die, wenn sie gelingt, oftmals nicht nur für eine Geschichte taugt, sondern ganz Serien zur Folge hat. Traci Chee wagte sich mit ihrem Debüt auf bewegte See. Von ANDREA WANNER

9783551583529 - Ein Meer aus Tinte und GoldDie Idee, die sich die amerikanische Autorin ausgedacht hat, ist faszinierend: eine Welt ohne Bücher. Geschriebene Worte existieren nicht, zumindest nicht öffentlich. Es gibt Lektüre, gut versteckt, aus einer Zeit »davor«. Und wer die Zeichen auf dem Papier zu deuten weiß, lebt gefährlich, muss sogar um sein Leben bangen.

Sefias Eltern wurden brutal ermordet. Seither ist sie mit ihrer Tante Nin auf der Flucht – bis auch diese entführt wird. Was die Täter aber eigentlich suchen, ist der Gegenstand, den das Mädchen bei sich trägt: ein Buch. In ihrer grenzenlosen Verzweiflung schaut sie sich das seltsame Ding näher an und beginnt sich zu erinnern. Daran, dass ihre Mutter ihr vor langer Zeit die Bedeutung der Buchstaben beibrachte. Sefia beginnt den Sinn der Zeichen zu entschlüsseln und lernt mühsam das Lesen.
Dieser eine Handlungsstrang wird ergänzt durch die Begegnung mit einem stummen Jungen, der Schreckliches durchgemacht hat und zu Sefias Gefährten wird und sie auf der Suche nach ihrer Tante begleitet.

Um die Hauptgeschichte ranken sich weitere – eine Geschichte in der Geschichte, die in dem geheimnisvollen Buch steht und eine Bibliothek mit zahlreichen Akteuren als Ausgangspunkt eines weiteren Handlungsstranges. Das Erzählen wird ständig unterbrochen, setzt an anderer Stelle wieder an und nach und nach werden die losen Fäden zusammengeführt, bilden eine gemeinsame Geschichte. Dafür braucht es Geduld beim Lesen. Die Autorin macht es einem dabei nicht ganz leicht. Auch wenn der Stil durchaus einladend ist, ihr eindrucksvolle Bilder gelingen und ein hohes Maß an Spannung erzeugt wird – gelegentlich hat man einfach das Gefühl, dass ihr die eigene Geschichte zu klar ist, weil sie das Ziel kennt und sie die Orientierungslosigkeit des Lesers nicht nachvollziehen kann. Manchmal wirkt sie mit dem ganzen magischen Konstrukt einfach überfordert.

Dabei ist nicht nur die Idee fesselnd, auch das Titelbild sowie die Umsetzung im Layout sind ungewöhnlich gelungen. Da sieht das Buch im Buch wie auf Pergament gedruckt aus, es gibt Textübermalungen, die erahnen lassen sollen, dass da etwas besonders brutales dem Leser zur Schonung vorenthalten wird, oder einen Fingerabdruck, der in einem das Gefühl weckt, es gebe genau das eine Buch und nicht eine große Auflage identischer Bücher, die in unserer Welt gedruckt wurden. Leider gelingt es trotz dieser diese Rahmenbedingungen nicht, das Buch mit lebendigen Charakteren, einprägsamen Orten und einer plausiblen Handlung zu füllen. Eine schöne Hülle, nicht viel mehr.

Kelanna ist eine mittelalterlich anmutende Welt, grausam und voller Gewalt. Bücher sind aus ihr verschwunden und mit ihnen das, wofür die Literatur steht: als ein Ort des Erinnerns und Vergewisserns, an dem Dinge erzählt und geteilt werden. Dinge, die uns helfen, die Welt zu verstehen. Band 1, ›The Speaker‹, erschien im vergangenen Jahr auf Englisch, Band 2, ›The Reader‹, wird im Herbst auf Englisch erscheinen und einen dritten Band soll es auch geben. Nur zu gern hätte man sich in dieses Meer aus Tinte und Gold geworfen, in dem aber leider selbst versierte Schwimmer unterzugehen drohen.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Traci Chee: Ein Meer aus Tinte und Gold
(The Reader. SeaofInkand Gold, 2016)
Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister
Hamburg: Carlsen 2016
480 Seiten. 17,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wahnsinn und Liebe

Nächster Artikel

Technische Dystopie

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Hausstaub oder Sternenstaub?

Jugendbuch | Cornelia Travnicek: Harte Schale, Weichtierkern

Fabienne ist 16 und anders. Wie anders kann sie nicht wirklich fassen, obwohl sie es ständig versucht. Ihr Tagebuch (das sie nicht so nennen will, weil sie Tagebücher hasst) gibt Einblicke in die Gedanken und das Leben eines ganz besonderen Mädchens. Von ANDREA WANNER

Jede Menge Glücksportionen

Jugendbuch | Elisabeth Steinkellner: Papierklavier

Was wünscht man sich mit 16? Eine Mutter, die sagt: »Tut mir leid, dass ich manchmal vergesse, wie hart es ist, sechzehn zu sein?« Einen Freund? Mehr Geld? Maia bringt ihre Träume, Wünsche und Gedanken in ihrem Tagebuch zu Papier, in Worten und Zeichnungen. ANDREA WANNER hat sich über diesen klugen Blick auf die Welt gefreut.

Frei sein

Jugendbuch | Sabine Giebken: Über uns das Meer Frei sein, wer träumt nicht davon? Wer spricht nicht von Freiheit, vor allem, wenn man noch jung ist und die Welt so groß und weit, dass alles, was die Größe mindert, nur Zwang sein kann? Freiheit kommt jedoch immer mit Grenzen daher und einen Preis hat sie auch. Wer mit beiden Händen blind danach greift, muss die Folgen tragen. Von Freiheit und Grenzen, Weite und Beschränkung erzählt Sabine Giebken unter einem ganz besonderen Blickwinkel in ›Über uns das Meer‹. Von MAGALI HEISSLER

Auf der Suche nach der Wahrheit

Jugendbuch | Kevin Brooks: Travis Delaney. Was geschah um 16:08? Bei einem Autounfall kommen die Eltern von Travis ums Leben. Nichts ist mehr, wie es war. Der 13jährige trägt natürlich schwer an diesem Verlust. Aber es gibt noch andere Dinge, die ihn beschäftigen. ANDREA WANNER hat eine tragische, aber auch ungewöhnliche Detektivgeschichte für Jugendliche gelesen.