Eine grandiose Wiederentdeckung

Kunst | Große Retrospektive von Anita Rée in Hamburg

Die Malerin Anita Rée hätte ein Meteor am Kunsthimmel werden können, wenn nicht 1933 durch die »Machtergreifung« der Nazis die schwärzeste kulturelle Nacht über Deutschland hereingebrochen wäre. Von PETER ENGEL

Anita Rée (1885–1933) Weiße Nussbäume, 1922–1925 Öl auf Leinwand, 71,2 x 80,3 cm © Hamburger Kunsthalle / bpk  Foto: Elke Walford
Anita Rée (1885–1933)
Weiße Nussbäume, 1922–1925
Öl auf Leinwand, 71,2 x 80,3 cm
© Hamburger Kunsthalle / bpk
Foto: Elke Walford
Als dann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Möglichkeit bestand, die Künstlerin aus ihrer unverdienten Vergessenheit zu reißen, hatten die hungernden und frierenden Menschen andere Sorgen als die Wiederbeschäftigung mit einer Verschollenen. Aber jetzt schlägt endlich ihre Stunde, und das nicht nur in Anita Rées Heimatstadt Hamburg, wo sie 1885 geboren wurde und wo man schon etwas länger mit ihrem Werk bekannt ist, sondern diesmal über alle Grenzen hinaus.

Die umfassende Retrospektive auf das Schaffen der Malerin in der Hamburger Kunsthalle stößt die Wiederentdeckung eines Werks an, durch das die Künstlerin als eine wesentliche Gestalt der Moderne neu in Erscheinung tritt. Die eindrucksvolle Präsentation im Untergeschoß der Galerie der Gegenwart umfasst rund 200 Gemälde, Arbeiten auf Papier und dazu bemalte Objekte und ermöglicht die Gesamtschau auf ein vielgestaltiges Werk, das von impressionistischen Anfängen über Landschaften insbesondere aus Italien bis hin zu einer eigenständigen Form neusachlicher Porträts reicht.

Besonders herausragend sind die Selbstbildnisse der Malerin, die den zentralen Raum füllen und neben mehreren Zeichnungen ihr wohl bedeutendstes Gemälde aus dem Jahr 1930 bieten. Dieses Werk, das auch den Umschlag des Katalogs ziert, zeigt die Künstlerin in schonungsloser Nacktheit, mit gekreuzten Armen vor der Brust und in der Pose einer Melancholikerin mit der an die Wange geschmiegten rechten Hand. Dieses Bild ist ein Schlüssel zum schwierigen Charakter von Anita Rée.
Leben und Werk der Malerin waren eng verzahnt, beides durch innere Gegensätzlichkeiten und auch Widersprüche gekennzeichnet. Ihr reichhaltiges Schaffen wurde entscheidend mitbestimmt durch die Suche nach Identität und »Beheimatung«. Zu den Selbstporträts gehört eines aus dem Jahr 1911, das Anita Rée fast wie eine Halbschwester der mexikanischen Malerin Frida Kahlo erscheinen lässt: Ein ähnlicher südländischer Typus mit tiefschwarzen Haaren, länglichem Gesichtsschnitt und stark ausgeprägten Augenbrauen.

Sind die Selbstbildnisse noch die bekanntesten Werke der Hamburgerin und waren zum Teil schon zuvor in der ständigen Sammlung der Kunsthalle zu sehen, so bieten ihre Bildnisse anderer Persönlichkeiten, denen ebenfalls ein ganzer Raum gilt, manche Überraschungen. An erster Stelle ist dabei wohl ein Porträt Carl Einsteins zu nennen, des bedeutenden Autors und Kunsthistorikers, mit dem Anita Rée befreundet war und mit dem zusammen sie während ihres Parisaufenthalts Museen und Ausstellungen besuchte. Sehr bemerkenswert auch ein Bildnis des früheren Kunsthallen-Direktors Gustav Pauli, der sich intensiv für das Schaffen der Malerin einsetzte. Dieses Werk wird in ungeschminkter Entschiedenheit und in klarer Präsenz noch übertroffen von Porträts der beiden Hamburgerinnen Dorothy Tillmann und Hildegard Heise, die Beispiele eines eigenständigen neusachlichen Stils der Malerin sind.

Um 1930 erreichte Anita Rée, die jüdische und südamerikanische Wurzeln hatte, den Höhepunkt ihrer Karriere. Sie fand viel Beachtung in der Hamburger Kunstwelt, hatte einflussreiche Sammler und Freunde. Die Kunsthalle ihrer Heimatstadt erwarb etliche Werke von ihr, und die Malerin erhielt öffentliche Aufträge, der endgültige Durchbruch als Künstlerin schien unmittelbar bevorzustehen. Doch da verstärkten sich in Deutschland die nationalistischen und antisemitischen Strömungen, und die für die Spannungen ihrer Zeit besonders empfindliche Künstlerin litt unter diesen beängstigenden Tendenzen.

1932 zog sie sich auf die Insel Sylt zurück, malte und zeichnete dort meist düstere Dünenlandschaften und weidende Schafe, die im letzten Raum der Ausstellung gezeigt werden und ein Absinken ihrer künstlerischen Kraft und Kreativität markieren. Sie hatte offenbar ihren Lebensmut verloren und nahm sich am 12. Dezember 1933 mit Veronal das Leben.

Anita Rée (1885–1933) Selbstbildnis, um 1913 Kohle und Aquarell, 44,5 x 32 cm  © Hamburger Kunsthalle / bpk  Foto: Christoph Irrgang
Anita Rée (1885–1933)
Selbstbildnis, um 1913
Kohle und Aquarell, 44,5 x 32 cm
© Hamburger Kunsthalle / bpk
Foto: Christoph Irrgang

Nach ihrem Tode wurde es in Nazi-Deutschland still um die Malerin, und wenn auch Freunde in ihrer Heimatstadt über diese dunkle Zeit hinweg ihr Andenken wach hielten, so dauerte es doch bis 1986, dass eine erste größere Einzelausstellung im Gefolge einer gründlichen Monographie in Hamburg wieder deutlich auf die Künstlerin hinwies. Die noch bis zum 4. Februar nächsten Jahres dauernde Retrospektive in der Kunsthalle der Hansestadt wird jetzt sicher bewirken, dass Anita Rée dauerhaft ihren angemessenen Platz in der deutschen Kunstgeschichte und darüber hinaus in der Klassischen Moderne überhaupt findet.

| PETER ENGEL
| Titelbild: Anita Rée (1885–1933), Selbstbildnis, 1930 Öl auf Leinwand, 66 x 60,8 cm © Hamburger Kunsthalle / bpk
Foto: Elke Walford

Tielangaben
ANITA RÉE Retrospektive
Hamburger Kunsthalle
Galerie der Gegenwart
6. Okt 2017 bis 4. Feb 2018
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