Musik | Andreas Ammer: F.M.Einheit: Frost 79° 40′ / Philip Jeck: Vinyl Coda I-IIII
»Ich hörte ein Geräusch … Wie ein Pistolenschuss … Es war Scotts Arm, der brach, als sie versuchten, sein Tagebuch unter dem Körper hervorzuholen.« Die makaber klingende Aussage des Expeditionsteilnehmers Tryggve Gran, der den gefrorenen Leichnam des englischen Polarforschers fand, markiert einen Aspekt dieser menschlichen Tragödie. Von KLAUS HÜBNER
Vier Wochen nach Amundsen erreichte Robert Falcon Scott am 18.1.1912 den Südpol. Andreas Ammer, von dem die Texte und Bänder stammen, produzierte mit F.M. Einheit, ehemaliger Schlagzeuger der Einstürzenden Neubauten, das als Bühnenstück konzipierte ›Frost 79° 40’‹ als Hörspiel. Weit weg vom klassischen Erzähl- und Dialoghörspiel entstand ein eindrucksvolles radiophones Werk in bizarrer Atmosphäre, zusammengesetzt aus experimentell-elektronischen Klängen und gesprochenen/gesungenen Texten.
Die Mischung aus Klangmomenten, Stimme, Geräuschen und Originaltonaufnahmen (mit Tryggve Gran) erzeugt ein gespenstisches Bild vom Tod eines besessenen Entdeckers. Aus Scotts Tagebuch wird die tödliche Umklammerung durch das ewige Eis des Südpols überaus plastisch und bedrohlich vermittelt. Was übrig bleibt vom Menschen Scott, sind sein steifgefrorener Körper und die Gegenstände, die später in der Nähe des Pols gefunden wurden: Zelt, Sextant, Zettel, Taschen, Hypsometer. F.M. Einheit und das finnische Elektroduo Pan Sonic verstanden es, Kälte, Frost und Geräusche realitätskonform zu dokumentieren, ohne die Klänge der absoluten Wahrheit anzupassen.
Philip Jeck widmet sich ausgiebig der Wiederverwertung ausrangierter, defekter Vinylschallplatten, die er auf alten Kofferplattenspielern laufen lässt. Manipulation am Medium heißt die Ausgangsbasis seiner Experimente, die er live aufführt. Dadurch sind seine Stücke allesamt Unikate. Anlässlich der ›intermedium1‹, ein vom Bayerischen Rundfunk initiiertes Festival, präsentierte Jeck ›Vinyl Coda III‹, das mit zwei älteren Klangarbeiten nun auf einer Doppel-CD vorliegt.
Jeck arbeitet mit den Begleiterscheinungen abgenutzter Schallplatten wie Knacken, Rauschen, Knistern, und schafft durch bewusst herbeigeführte »Verletzungen« des Vinyls noch zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten. Alles, was technisch unsauber klingt, entreißt Jeck der Vergesslichkeit und gestaltet mit Hilfe des Mediums Schallplatte neue Hör-Kunstwerke.
In dem er das Arbeitsergebnis anderer Musiker nutzt, lässt er neue »musikalische Stücke« entstehen. Damit geht er weit über die gebotenen Möglichkeiten der »DJ-Culture« hinaus, weil er nicht nur Schallplatten abspielt, sondern mit seiner Manipulation etwas ganz anderes als moderne Musik in Form von Techno, House oder HipHop erschafft.
Arktis, moderne Urbanität und individuelle Tragik bekommen durch diese Hörfunkarbeiten eine unerwartete Interpretation.
| KLAUS HÜBNER
Titelangaben
Andreas Ammer/ F.M.Einheit: Frost 79° 40’ (FM 4.5.1/Indigo 9185-2)
Philip Jeck: Vinyl Coda I-III. (intermedium rec. 002/Indigo 9316-2)