Canetti vermittelt den Eindruck, als ginge er mit jedem Satz um, als sei er eine empfindliche Wertsache, die nicht leichtfertig verschlampt werden darf. Von THOMAS ROTHSCHILD
Aus seiner Autobiographie wissen wir, wie sehr der junge Elias Canetti – und damit stand er nicht allein – von den legendären Vorlesungen des großen Satirikers Karl Kraus fasziniert war. Solche Eindrücke sind offenbar lebenslang prägend. Canetti las seit seiner Jugend selbst gern aus seinen Werken vor, und er gilt als einer der vorbildlichen Vorleser, obwohl seine hohe, dünne Stimme keineswegs für den öffentlichen Vortrag prädestiniert erscheint. Was an Volumen fehlt, kompensiert Canetti durch Artikulation.
Zwar hat man gelegentlich das Gefühl, dass ihm die Worte davonlaufen, dass er sich ein gesteigertes Tempo aufdrängen lässt, wo der Sinn Verweilen vorschlägt. Aber zugleich vermittelt er den Eindruck, als ginge er mit jedem Satz um, als sei er eine empfindliche Wertsache, die nicht leichtfertig verschlampt werden darf.
Die Aufnahmen von Canettis Lesungen, die bislang nur zum Teil und meist nur umständlich aufzufinden waren, zum Beispiel im Marbacher Literaturarchiv, liegen nun in einer aufregenden Edition vor. Ganze 33 Stunden sind auf zwei MP3-CDs komprimiert. Hier wird eine aktuelle technische Möglichkeit wirklich in den Dienst der Literatur gestellt. Handlicher geht’s nicht. Das Begleitbuch, das die CDs enthält, befriedigt geradezu bibliophile Ansprüche. Das sollte Schule machen!
Die CDs bieten einen Überblick über fast das gesamte Werk Canettis: Da sind die Dramen ›Die Hochzeit‹, ›Komödie der Eitelkeit‹ und ›Die Befristeten‹, da ist der Roman ›Die Blendung‹, den manche in einem Atem mit den Romanen Kafkas nennen, da ist der große Essay ›Masse und Macht‹, ausführlich wird ›Die Provinz des Menschen‹ vorgestellt, und da sind die autobiographischen Bücher, mit denen Canetti ein größeres Lesepublikum gewonnen hat, da sind kurze Texte und Aphorismen. Ergänzt werden die literarischen Texte durch Gespräche, in denen Canetti Auskunft über sein Werk und seine prononcierten Ansichten gibt. Auch Canettis Büchnerpreis-Rede ist zu hören.
Canetti hat sich in seinen Schriften zu vielen Persönlichkeiten der Geistesgeschichte, insbesondere der Literatur, geäußert, teils voll Verehrung, teils kritisch und manchmal auch maliziös. So lassen sich die Hörwerke auch als eine Art subjektiver literaturgeschichtlicher Vorlesung goutieren.
Gepriesen wird von den Verehrern Canettis, wie er bei den Dramen – nach dem Vorbild der Lesungen von Karl Kraus aus ›Die letzten Tage der Menschheit‹ – die diversen Rollen mit differenzierter Stimmlage und Sprechweise vorträgt. Das hat etwas Komödiantisches, das bisweilen auch an Qualtinger erinnern mag. Unfreiwillig komisch wirken hingegen manche rundfunkdeformierte Befrager in ihrem wichtigtuerischen Ernst. Entschädigt wird man für solche Ausschnitte durch ein Gespräch zwischen Canetti und Adorno. Das hat heute den Charakter eines geschichtlichen Dokuments.
Titelangaben
Elias Canetti: Das Hörwerk. 1953-1991
Prosa, Dramen, Essays, Vorträge, Reden, Gespräche
Frankfurt/Main: Zweitausendeins 2004