Vom Verschwinden des Menschen im Mineral

Film | Michelangelo Frammartino: Vier Leben

Der 1968 in Mailand geborene Michelangelo Frammartino, dessen Familie ursprünglich aus Kalabrien stammt, hat seinen zweiten (wie schon seinen ersten uns allerdings unbekannten) Film in der Heimat seiner Vorväter gedreht – dort, wo das Mezzogiorno hoffnungslos – von Gegenwart & Zukunft verlassen – mit dem archaischen Kontakt und die bösartige »Ndrangheta« mafiotisch ihr Ursprungsrevier unter Kuratel hält. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Wenn Robert Bresson an die Seelenwanderung geglaubt hätte, könnte man sich, nach ›Au hasard Balthazar‹, einen Film wie ›Le Quattro Volte‹ von ihm vorstellen. Aber der Katholik war kein Heide.

Der Mailänder Intellektuelle mit seinen kalabresischen Familienwurzeln ist vom mythischen Immerdar fasziniert. Pythagoras, der »indischste« unter den Vorsokratikern, der einst hier lebte & lehrte, hat ihm die Idee für seinen semidokumentarischen Film Le Quattro Volte eingeflüstert. Es gebe, erklärt Frammartino den Titel, nach der Überzeugung des griechischen Philosophen aus dem 6. Jahrhundert vor Christus, vier Lebensformen im Menschen zu erkennen: die mineralische, pflanzliche, tierische & menschliche. Frammartino buchstabiert das animistische Credo des Pythagoras und seine religiöse Idee des Lebenskreislaufs rückwärts: absteigend vom menschlichen Willen & Wissen bis zum Mineralischen.

Hat man je einen dokumentarischen Film gesehen, in dessen Verlauf der Mensch verschwindet und Platz macht dem Tier, dieses der Pflanze und sie schließlich der Holzkohle, dem durch menschliche Findigkeit zum Mineral gewordenen Heizmaterial, mit dessen Entweichen als Rauch eines dörflichen Kamins die ›Vier Leben‹ (so der deutsche Titel) endet?

Man hat nicht.

Denn Michelangelo Frammartino hat etwas Neues, ganz Außerordentliches & zugleich Schönes, Bewegendes geschaffen: Einen Film wie ein episches Gedicht in Bildern & Tönen; nur von Ferne dringt menschliche Sprache an unser Ohr; dafür um so bestürzender, herzzerreißender: das Keuchen & Husten eines sterbenden Alten, das Gekläff eines Hirtenhundes, die (ja: buchstäblich) verzweifelten Hilfeschreie eines verlassenen Zickleins, das tiefe Rauschen einer riesigen Tanne, das pfeifende Singen eines Holzkohlemeilers im Verlauf seiner tagelang schwelenden Transsubstantiation vom pflanzlichen Holz zum Mineral der Kohle.

Das Ende des alten Ziegenhirten

Wenn er nicht vor sich hindöst, der alte Ziegenhirt, dann hustet er; kaum noch kann er seiner Herde folgen – so ist er außer Atem. Abends, wenn er in der langen, braunen Unterhose auf seinem Bettlager sitzt, über dem nur eine nackte Glühbirne Licht in den kärglichen, dunklen Raum wirft, schüttet er hustend ein graues Pulver in das Glas mit Wasser, das er zur Nacht trinkt, bevor er das Licht löscht. Das Pulver hat er einem gefalteten Illustriertenpapier entnommen.

Mit glitzerndem Staubweben im Sonnenlicht, das die nächste Einstellung überraschend präsentiert, sind wir im Kirchenraum des Dorfes. Eine Beschließerin fegt den Staub auf einer Schaufel zusammen, zweigt dann ein wenig davon ab & schüttet ihn auf ein abgerissenes Illustriertenblatt, das sie mit offenbar vertrauten Handbewegungen mehrfach faltet. Kurz darauf sehen wir am Kirchenaltar den Hirten, der wortlos eine Flasche Ziegenmilch gegen das heidnische Heilmittel tauscht.
Einen Tag später, beim Zubettgehen, bemerkt der Alte, dass ihm sein archaisches Mittelchen fehlt. In Panik läuft er durch die Gassen des spärlich erleuchteten Dorfs zur Kirche. Aber sein lautes Klopfen an der Kirchentür bleibt erfolglos.

Der nächste Morgen, es ist wohl Karfreitag. Die Kamera erfasst von einer erhöhten Position aus in einer Totalen sowohl das von dem kleinen Hirtenhund nervös bewachte Gehege der Ziegenherde (vorne links), als auch eine steile Straßenkreuzung, an der das Haus des Hirten, außerhalb des Ortes steht (in der Tiefe rechts). Ein Priester verfolgt gestikulierend die Zimmermannsarbeiten zweier Männer an einem übermannsgroßen Kreuz, das dann durch das Stadttor (hinten links) geschleppt wird.

Ein kleiner, keuchender, offener Lieferwagen fährt vor, nachdem der Platz menschenleer ist. Auf seiner Ladenfläche und an seinem Steuer: drei als römische Legionäre gekleidete junge Männer. Sie begeben sich, vom kläffenden Hirtenhund umtanzt, durch das Stadttor und gehören kurze Zeit darauf zur kostümierten Osterprozession, die aus der Stadt hinaus, an dem Ziegengehege vorbei & entlang an Gärten rechter Hand einen Hügel entgegen zieht, auf dem man in der Ferne schon zwei errichtete Holzkreuze sieht.

Der Hirtenhund, den ein Legionär in einen Garten verscheucht hatte, damit die Prozession freien Weg hat, kehrt zurück. Und die Kamera, die in einem 90Grad-Schwenk dem Passionszug der Dorfbewohner nachgeblickt hatte, dreht die Blickachse mit dem wiederkehrenden Hund zurück in die Ausgangslage.

Ein aus dem Dorf kommender, dem Zug nacheilender kleiner Ministrant hat einige (komische) Mühe, an dem bellenden Hund vorbei zu kommen, der – kaum ist der Ministrant verschwunden – den Stein wegträgt, den einer der »Legionäre« unter das Hinterrad des auf der steilen Straße geparkten Kleintransporters gelegt hatte. Das Auto setzt sich in Bewegung – und wir hören, wie es in das Holzgehege der Ziegenherde einbricht – und sehen, wie die Herde nun sich auf der Straßenkreuzung verstreut.

Der Lebenskampf des Zickleins

Jetzt erst – nach dieser einen sehr langen Totalen mit Schwenk – montiert Frammartino wechselnde Nah-Einstellungen auf die Tiere, die sich bis in das Schlafzimmer des auf seinem Bett liegenden Hirten ausbreiten & von Andrea Locatellis Kamera als Galerie individueller Köpfe präsentiert werden. Sie umringen & begleiten den Sterbenden, der als letztes – in einer subjektiven Einstellung – unscharf die Umrisse eines Ziegenkopfes wahrnimmt. Und als der Sarg mit dem Toten in eine Grabkammer geschoben & diese verschlossen wird, erwartete ihn dort die Kamera – die, nach einem Moment Schwarzfilm auch dabei ist, wenn nach diesem tödlichen Ende der ersten Episode ein Zicklein aus dem Leib seiner Mutter in die Welt fällt.

Im zweiten Teil der suggestiv annoncierten Seelenwanderung werden wir in den Lebenskampf gezogen, den das Zicklein gegen seinesgleichen führt, wenn es darum geht, immer wieder auf den höchsten Platz im Stall zu klettern, die anderen wegzustoßen oder selbst verstoßen zu werden.

Auf einer Wanderung der Herde durch das Gestrüpp der Gegend ist eine kleine, tiefe Senke zu überspringen. Allen gelingt es mühelos; als die Herde glockenklingend weitergezogen und hinter dem Hügelgipfel verschwunden ist, erhebt sich das ebenso jämmerliche wie verzweifelte Rufen des kleinen Zickleins, das als Einziges in die Senke gefallen war. Selbst als es schließlich herausfindet und umherläuft, erreicht sein panisches Angstschreien kein Echo von der Herde oder die Aufmerksamkeit des Hirten. Als sich der Abend ankündigt, sucht das verlorene Kitz unter einer majestätisch aus der bergigen Landschaft aufragenden riesigen Tanne eine Ruhestätte.

Verwandlungen einer einsamen Fichte

Nun wechselt ›Vier Leben‹ zum ersten Mal die Zeiten, um in seine dritte Episode zu gelangen. Wir sehen die riesige, einzelstehende Tanne im Sommer & im Winter. Nach den Nah- und Großaufnahmen des Zickleins in seiner zweiten Episode bleibt der Film nun fast immer in der Totalen.

Gewissermaßen aus der Ferne betrachtet Frammartino einen archaischen Ritus in Kalabrien, der an unsere Tradition des Maibaums erinnert. Die Männer des Dorfes fällen die riesige Tanne, schälen sie und beteiligen sich alle am schwierigen Transport des schweren Stamms ins Dorf. Dann wird er – wobei man ihm einen kleineren Nadelbaum an die Spitze bindet – unter allgemeiner Beteiligung auf einem Platz des Dorfes errichtet. Offenbar gehört es zu den Höhepunkten des Dorffestes, dass die mutigsten jungen Männer bis in die Krone klettern: den Jubel über einen erfolgreichen Kletterer ist noch kilometerweit zu hören, wohingegen der Zuschauer Acht geben muss, in der Totalen mit dem weit entfernten Baum den winzigen Kletterer zu sehen.

In der letzten Phase dieser Seelenwanderung sehen wir den stolzen Baumstamm niederstürzen. Wieder kommen, wie in der ersten Episode, junge Männer mit demselben Kleintransporter. Sie schneiden den Stamm in ein Meter lange Stücke, die sie aufladen und zu einem Platz fahren, wo eine Reihe von Köhlern das kunstvoll arrangierte Rund eines Meilers mit ihnen bestücken & zuletzt den Hohlbau mit Erde bedeckten. Dann wirft einer der Köhler, der über eine Leiter das in der Mitte frei gelassene Loch erreicht, glühendes Holz hinein und wie bei einer Vulkanlandschaft, strömen bald Rauchschlieren aus zahlreichen Löchern des leise singenden Meilers – zum Zeichen, dass der Prozess der Mineralisierung des Holzes zur Kohle im Gang ist. Nun brauchen, wenn der Meiler heruntergebrannt ist, die Köhler nun noch die Kohle in Säcke zu füllen & sie im Dorf abzuliefern.

Der letzte (Rück-)Blick der Kamera geht über die Dächer des Dorfs, bis aus einem Schornstein Rauch aufsteigt – und die pythagoreische Seelenwanderung an ihr Ende gekommen ist.

Da Michelangelo Frammartino an keiner Stelle seines kommentarlosen Films dessen philosophisch-metaphysische Intention erwähnt, erschließt sie sich, wie in anderen Künsten auch, einzig durch den Titel als Fingerzeig. Der Gefahr, durch den dokumentarischen Gestus »nur« lose verbundene Episoden aus der Einsamkeit & Weltabgeschiedenheit Kalabriens zu präsentieren, arbeitet der Regisseur mit einer minutiösen Formgebung (durch Kadrierung, Einstellungsgröße, Nähe & Distanz des Kamerablicks, Geräusch & Ton) mit bewundernswerter Stimmigkeit entgegen.

›Vier Leben‹ ist ein stiller, filmisch präzise komponierter Film, der einen zur meditativen Ruhe einer Anteil nehmenden Beobachtung verführt, die im heutigen Kino so selten ist wie die in ihr aufscheinende Schönheit einer ritualen Weltbetrachtung im Sinne & der Sinnlichkeit des Vorsokratikers Pythagoras.

| WOLFRAM SCHÜTTE

Titelangaben
Vier Leben
(Le quattro volte)
Drama – Italien/Deutschland/Schweden 2010
88 Min.
Verleih: NFP
Start: 30.06.2011

Regie: Michelangelo Frammartino
Darsteller: Giuseppe Fuda, Bruno Timpano, Nazareno Timpano

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