Empörung & Kollateralschaden – Philip Roth schreibt über & gegen einen grausamen Witz

Roman | Philip Roth: Empörung

Der 75-jährige amerikanische Schriftsteller Philip Roth erschreibt sich in seinem jüngsten Buch Empörung die tödlich endende Alternativbiografie eines nonkonformistischen Studenten in den Zeiten des Koreakriegs. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Roth - EmpoerungMarcus Messner ist der einzige Sohn seiner Eltern, die in Newark – Philip Roths »Yoknapatawpha-County« seit »Portneys Beschwerden« – eine koschere Metzgerei betrieben und es damals schon (1951, zur Zeit des Koreakriegs) schwer hatten, sich gegen den preistreiberischen Supermarkt in der Nähe ökonomisch über Wasser zu halten. Aber Marcus, der im Laden mitarbeiten muss und von seinem Vater im ungeliebten Metzgerhandwerk ausgebildet wird und in Blut watet, wenn geschächtet wird, ist der erste seiner Familie, »der nach höherer Bildung strebte«. Der überaus stolze Vater mehr noch als Marcus’ »jüdische Mamme« tut alles, um mit seinen bescheidenen Mittel den Sohn zu fördern, damit er studieren kann. Zugleich aber entwickelt der Vater eine buchstäblich VERRÜCKTE Sorge um »sein zärtlich geliebtes einziges Kind«, das sein größtes »Glück« ist. Er hütet den 18-jährigen Studenten auf dem Weg zur Selbstständigkeit wie seinen Augapfel und überwacht ihn; denn »es geht um das Leben, wo der kleinste Fehler tragische Folgen haben kann« – wie er dem »kaltblütigen Logiker«, brillanten Debattierer & Baseballspieler entgegenhält.

Der Metzgersohn war kurz nach dem Beginn des Koreakriegs 1950 in ein Newarker College eingetreten. Es sei »das beglückendste und zugleich furchtbarste Jahr« seines Lebens gewesen, memoriert Marcus mit einem Kleistschen Paradox – und weil er der fürchterlichen, enervierenden, grundlosen Überwachung des verrückten Vaters entkommen wollte, wechselte der ebenso ehrgeizige wie unauffällige Student ein Jahr später ins 500 Meilen entfernte Winesburg, Ohio – wenngleich seine Eltern sich, um sein Studium zu finanzieren, noch mehr nach der Decke strecken mussten als bisher; und Marcus deshalb noch musterschülerhafter als Einser-Student sich anstrengte, um einmal später als Anwalt soweit als möglich seiner Herkunft entkommen zu können.

Furios exponiert Philip Roth seine jüngste lange Erzählung Empörung, in deren Mittelpunkt das Memorial des 19-jährigen Marcus Messner steht, der sich – im Schatten des grausamen, verlustreichen Koreakriegs, in den die USA unerfahrene junge Wehrpflichtige schickte – von seiner geistfernen, unterprivilegierten Herkunft durch strebsame Energie auf dem College emanzipieren will. Solange der ebenso brave wie außerordentlich intelligente junge Aufsteiger studiert, der die Welt jenseits der engen jüdischen Familienbande kennen und in ihr reüssieren will, ist auch die Gefahr gebannt, als Schlachtvieh nach Korea geschickt zu werden.

Philip Roth, der mit diesem Buch seine letzten Altersreflexionen (Das sterbende Tier, Jedermann, Exit Ghost) zugunsten eines jugendlichen Helden verlassen hat, schickt seinen Marcus Messner in ein fiktives College, das einen Namen trägt, der seit Sherwood Andersons 1919 publiziertem gleichnamigen Roman um eine kleine Stadt einen Gründungstext der modernen amerikanischen Literatur annonciert. William Faulkner z.B. hielt Sherwood Andersons Porträtsammlung grotesker Charaktere, denen ihre Sexualität im Gegenlicht der bigotten christlichen Religiosität zum Verhängnis wird, für den »Vater aller meiner Arbeiten und der Werke von Hemingway, Fitzgerald, von uns allen«.

Nein, Eure Suppe esse ich nicht!

Das College in Winesburg, Ohio, ist also eine höchst bewusste Allusion Philip Roths, wenngleich dieser Topos für den poeta doctus als Brennspiegel dient, um die prüden Sitten und Ideologien der USA in den Fünfziger Jahren heraufzubeschwören, als er selbst studierte und als selbstbewusster Jude & Atheist damit konfrontiert worden war.

Marcus ist ein Einzelgänger, der im Studentenkollektiv der Winesburger Fremde dadurch auffällt, dass er an der christlich-»liberalen« Provinzuniversität weder einer der zahlreichen (jüdischen und liberalen) Studentenverbindungen beitritt, die sich erfolglos um den freundlichen Streber bemühen, noch sich für das Baseballteam angemeldet hat. Zu einem Stein des Anstoßes wird jedoch sein zweifacher Zimmerwechsel. Erst mit drei jüdischen Kommilitonen zusammen, dann mit einem christlichen, zieht er es am Ende vor, seine ehrgeizigen Studien lieber allein im »schlechtesten Zimmer von ganz Winesburg« zu treiben, wie der Dean des Colleges behauptet, der den wegen seines mehrfachen »Davonlaufens« auffällig gewordenen Studenten zu sich bestellt hat.

Das Gespräch zwischen der Autorität und dem Einzelgänger, der es bald zurecht als Verhör empfindet, entfaltet Roths ganze rhetorisch-dialogische Meisterschaft, wie durch einen verbalen Lackmustest das Verborgene aufscheinen zu lassen, ohne es direkt auszusprechen. Die salbungsvolle Fürsorglichkeit des Deans wird auf subtile Weise transparent auf ein inhärentes Überwachungssystem, in dem Marcus’ Abweichungen von der Konformität als rebellische Widersetzlichkeit eines Unangepassten erscheinen. Dabei will er nur, ganz auf sich gestellt, seinen Studien nachgehen.

Auch spürt Marcus unterhalb der liberalen Fassade sowohl antisemitische Ressentiments als auch einen religiösen Fundamentalismus, der ihn zwingt, wöchentlich einer Predigt beizuwohnen, deren Pein der stolze Atheist Marcus dadurch neutralisiert, dass er sich den Text der chinesischen Nationalhymne innerlich vorspricht, den er zusammen mit anderen patriotischen Liedern während seiner Schulzeit im Zweiten Weltkrieg gelernt hatte, als die mit den USA verbündeten Chinesen gegen die feindlichen Japaner kämpften. Im »feurigen Rhythmus« der Hymne haben es ihm besonders die Zeilen angetan: »Steht auf! Ihr, die ihr nicht Sklaven sein wollt. (…) Empörung füllt die Herzen unserer Landsleute. Steht auf! Steht auf! Steht auf!« Seither scheint ihm »Empörung« das schönste Wort der englischen Sprache zu sein, und das wird ihm zum Verhängnis. Die Hymnen-Worte spricht er sich nun auch innerlich vor, um die Contenance in dem schärfer werdenden Streitgespräch mit dem Dean zu wahren. Der Cantus Firmus der Empörung über das Verhör, dem er unterzogen wird, reißt ihn aber zuletzt dazu hin, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und dem Dean seinen Atheismus mit Bertrand Russels Argumenten zu erklären – bevor Marcus eine Übelkeit erfasst und er sich nicht nur auf den Teppich übergeben muss, sondern auch noch in hohem Bogen auf die gerahmte Fotografie kotzt, die »das unbesiegte Winesburger Footballteam von 1924 zeigte«.

Der jüdische Parzival entdeckt die ungewöhnliche Liebe

Der sardonische Witz dieser ebenso grotesken wie metaphorischen Szene bleibt jedoch für Marcus folgenlos, weil sich herausstellt, dass seine Unpässlichkeit das Vorzeichen einer Blinddarmentzündung ist und Marcus kurz darauf operiert wird.

Bevor er zum Dean einbestellt worden war, hatte Marcus jedoch ein ebenso irritierendes wie beglückendes Liebeserlebnis. Die aus einer Clevelander Arztfamilie stammende Mitstudentin Olivia, die er im geliehenen Auto seines Zimmernachbarn ausgeführt hatte, befriedigte den jungfräulichen Parzival mit einem Blowjob (»weil ich Dich mag«) – in der Zeit des Hand üblichen Pettings eine außergewöhnliche orale Intimität.

Marcus’ Liebesgeschichte mit dem Mädchen aus reichem Hause ist der andere Handlungsstrang in Empörung, die ihn – weil er seinem Zimmernachbar von seinem überwältigenden Erlebnis erzählt – in die Bredouille bringt. Erst recht, als eine Krankenschwester Olivia bei der Manipul(l)ation von eruptiven Zärtlichkeiten nach Marcus’ Operation beobachtet und den Vorfall gemeldet hat.

Olivia, die sich von Marcus ausführlich seine Metzger-Tätigkeiten erklären lässt, verweigert ihm aber jede Auskunft über das offenbar dunkle Geheimnis ihrer Familie, obwohl sie Marcus gestanden hatte, dass sie Alkoholikerin gewesen ist, einen Selbstmordversuch hinter sich hat und von einem anderen College verwiesen worden war. Marcus’ besorgt an sein Krankenbett gereiste Mutter, die das Techtelmechtel der beiden (und die Narben an Olivias Armen) bemerkt, schließt mit dem Sohn eine gegenseitige Vereinbarung: Sie stellt die schon eingeleitete Scheidung von seinem verrückten Vater ein und ihr Sohn trennt sich von seiner gefährdeten Winesburger Geliebten.

Als nach seiner Genesung die geliebte Olivia verschwunden ist, bittet Marcus den Dean erneut um ein Gespräch, in dessen Verlauf er erfährt, dass sie einen Nervenzusammenbruch hatte und die Schwangere in einer Geschlossenen Anstalt ist; und ihm – aufgrund der Meldung der Krankenschwester – wird vom Dean nun unterstellt, das verstörte Mädchen in andere Umstände gebracht zu haben.

Aber nicht deshalb wird er vom College verwiesen; auch nicht wie zahlreiche seiner Kommilitonen, die nach einer aus dem Rahmen gefallenen Schneeballschlacht, welche sich zu einem Sturm auf die Mädchenheime des Colleges ausgewachsen und durch die Eroberung von Höschen & Büstenhaltern das »herrschende System moralischer Disziplin« in Frage gestellt hatte und an dem der brave Marcus natürlich nicht teilgenommen hatte. Relegiert wird er, weil er sich weigert, zur Strafe und als »tätige Buße« bis zum Ende seiner Collegezeit, also achtzigmal, wöchentlich dem »versteinerten, primitiven Aberglauben« des kollektiven Gottesdienstes beizuwohnen. Marcus empörtes »Fuck you«, das er dem Dean in der Übersetzung Werner Schmitz’ als »Sie können mich mal« entgegenschleudert, hat seine Einberufung nach Korea zur Folge, wo er drei Monate vor seinem 20. Geburtstag von chinesischen Bajonetten hingemetzelt werden wird.

Der Schock: ein Toter spricht

Philip Roth aber beschließt ironisch im Stil einer Moralischen Erzählung seine Empörung mit der Überlegung, wonach jener Krieg, in dem sein aufrechter Held umgebracht wurde, bereits elf Monate zu Ende gewesen wäre, »bevor Marcus, wäre er fähig gewesen, den Gottesdienst zu ertragen und den Mund zu halten, sehr wahrscheinlich als Jahrgangsbester sein Examen am Winesburger College gemacht hätte und auf diese Weise wohl erst später hätte erfahren müssen, was sein ungebildeter Vater ihm von Anfang an hatte beibringen wollen: auf welch furchtbare, unbegreifliche Weise die banalsten, zufälligsten und sogar komischsten Entscheidungen die unverhältnismäßigsten Folgen haben können«.

Obwohl er mit der Reminiszenz an die 50er Jahre, die dem heute 75-jährigen Solipsisten in Connecticut das imaginative Vergnügen gewährt, aus der Enge seiner letzten literarischen Lebens-Endspiele zur eigenen Jugend zurückzukehren und ein Gedankenspiel zu inszenieren, das auch sein Schicksal hätte sein können, drängt sich aber die Allgegenwart des Todes schockartig in diese längere Erzählung, die so wenig ein Roman ist wie Kleists Michael Kohlhaas (auch dies die Geschichte einer »Empörung«).

Denn unmittelbar, bevor er Olivias einzigartige Zärtlichkeit beim Namen nennt, die ihm »noch wochenlang Rätsel aufgab« – also im ersten Drittel des Buchs –, überraschen uns Autor wie Selbsterzähler Marcus mit dem Bekenntnis: »Selbst als Toter, der ich bin, und zwar seit wer weiß wie lange schon, beschäftigt mich immer noch die Rekonstruktion der Sitten, die damals auf diesem Campus herrschten, und die Rekapitulation der nervösen Bemühungen, mich diesen Sitten zu entziehen, die jene Reihe von Missgeschicken herbeiführten, die zu meinem Tod im Alter von neunzehn Jahren führten«. Daran schließt sich eine weitläufige metaphysische Betrachtung an, welche die tröstliche Agonie am Ende von »Jedermann«, der »ohne es zu merken, ins Nichts ging«, in Marcus’ Beunruhigung fortspinnt, in der ewigen Einsamkeit des Todes die Geschichte seiner »mickrigen neunzehn Jahre« als Endlosschleife qualvoll memorieren zu müssen – ein Totenselbstgespräch, das gegen Ende von Empörung noch einmal kurz aufgenommen wird: als echo- & trostlose Anrufung von Olivia und von Vater und Mutter.

Die schockierende literarische Brutalität, mit der Roth das chronikalische Memorial seines Selbsterzählers genau an dieser Stelle unterbricht und die Leser plötzlich damit konfrontiert, Teilhaber einer Totenreflexion zu sein, gleicht einem vom memento mori verursachten Coitus Interruptus: Bevor die Leser an Marcus’ erstem sexuellen Glück Anteil nehmen können, wird es durch die Nachricht von seinem baldigen Tod verätzt. Nur keine Sentimentalität aufkommen lassen, scheint Roth sich bei seinem »Campus-Roman« gesagt zu haben; denn der frühe Tod dieses jungen Mannes ist der Skandal seines kurzen Lebens, gegen dessen Umstände er sich in naiven Unschuld und ethischem Mut individuell empörte, anstatt buchstäblich »zu Kreuze zu kriechen«, konformistisch klein beizugeben – wie es alle anderen machen.

Der Epiker Philip Roth aber entlässt seine Leser nicht aus der Not, sich einen Reim auf die stolze Tugend seines Helden zu machen, dessen moralischer Rigorismus sich selbst gegenüber in einer heuchlerischen Welt ihn ins Unglück führt. Nah ist dieser späte Philip Roth dem tragikomischen Existenzialismus Joseph Conrads und Albert Camus’: Das Leben, die Welt ist undurchdringlich & dunkel – und das Schicksal, dem ein winziger Anlass zum katastrophischen Eingreifen genügt (wie man immer erst nachträglich zu erkennen glaubt), ist von sardonischem Witz: es führt den entlaufenen Schlachtergesellen auf Umwegen geradewegs zur Schlachtbank, wo er geschächtet wird.

Nicht übersehen aber kann ein kritischer Leser nach der Lektüre von Empörung, dass der Autor sich kompositorische Lässigkeiten herausnimmt und seinem Moribunden rhetorische Fertigkeiten & Tricks zuschreibt, die auf Roths Konto gehen und die man einem Newcomer nicht durchgehen ließe, aber einem Autor mit Sym- & Empathie nachsieht, der nach der lebenslangen literarischen Beschäftigung in seinem Alterswerk kurzatmiger, bedenken- und auch »kunstloser« als Erzähler vorgeht – um auch seine eigene Empörung zu artikulieren.

Denn Philip Roths erzählerische Erinnerung gilt nicht nur den (wie er Marcus memorieren lässt) 100.000 im Korea-Krieg getöteten GIs, an die heute keiner mehr denkt, sondern auch den US-Boys, die von der Regierung auf die Schlachtfelder nach Irak & Afghanistan geschickt wurden. Zumindest die dem Buch vorangestellten Zeilen aus E.E.Cummings fulminanten pazifistischem Gedicht »i sing of Olaf glad and big« weisen nachdrücklich darauf hin: »Olaf (auf dem was einst Knie waren) / wiederholt schier unablässig / ›nicht jeden Mist fress ich‹«. Es passt zu Philip Roths unbeugsamem Nonkonformismus, dass dieses 1931 (nur zensiert) erstpublizierte Gedicht des großen amerikanischen Lyrikers als Motto wählt, weil es noch heute auf den amerikanischen Colleges unter Bann steht. Dem Internet entnahm ich, dass noch nach 2000 drei Studenten, die es als Flugblatt verteilten, bestraft wurden: Denn der Olaf, von dem der Lyriker singt, ist das wehrlose Opfer seiner sadistischen militärischen Vorgesetzten.

| WOLFRAM SCHÜTTE

Titelangaben
Philip Roth: Empörung
(Indignation, 2008) us dem Amerikanischen von Werner Schmitz
München: Hanser-Verlag 2009
208 Seiten, 17,90 Euro
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