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»Nödel geweint« – oder unter Katzenjammer Kids

Menschen | Tagebuch aus dem Jahr 1955 / Der Landschafter auf der Höhe

Alice Schmidts Tagebuch aus dem Jahr 1954 war eine Mikroskopie des »la(e)endlichen« Lebens, das die »Umsiedler« Alice & Arno Schmidt in Kastel geführt haben. Das nun publizierte Tagebuch aus dem Jahr 1955 lässt uns die materiell prekäre Schriftstellerehe samt Alices Katzenwirtschaft in höchster Bedrängnis & Flucht nach dem rettenden Darmstadt sehen. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Alice Schmidt Tagebuch aus dem Jahr 1955Entgegen der ursprünglichen Absicht, von Alice Schmidts Tagebüchern nur eines zu veröffentlichen, um einen »ungefähren Eindruck« von ihrer diaristischen Tätigkeit zu geben, wie Jan Philip Reemtsma 2004 in seinem Nachwort zum Tagebuch aus dem Jahr 1954 (Zur Rezension) schrieb, hat sich die Arno Schmidt-Stiftung nun doch entschlossen, auch das Folgejahr aus der Sicht der Schriftsteller-Gattin zu dokumentieren. (Mitte 1956 stellte sie ihr Tagebuch ein). Es war eine richtige Entscheidung, noch einmal das Schrift- & Zeichengelände der Katzenjammer-Kids dem öffentlichen Blick zu öffnen, obwohl der Schock der ersten Wahrnehmung nun zur Gewöhnung abflacht. Das Jahr 1955 gehörte aber wohl zu den aufregendsten, ereignisreichsten & nachhaltigsten im Leben des Ehepaars, das unter extrem ärmlichen Verhältnissen in dem Weiler Kastel, nahe Saarburg im katholischen Rheinland-Pfalz lebte.

Nach Schmidts Bruch mit Rowohlt hatte der verlagslose »größte lebende Dichter Westdeutschlands« (wie ein Franzose zu seinem Entzücken geschrieben hatte) seine Kurzromane Pocahontas und Kosmas zwar abseitig mit Alfred Anderschs & Max Benses Hilfe publiziert, aber eine Anzeige wegen »Gotteslästerung und Pornografie« in der »Seelandschaft mit Pocahontas«, die ihn Mitte 1955 erreichte, löste Panik & Fluchtgedanken bei dem in jeder Hinsicht dissidenten, eigenbrötlerischen »Menschenfeind« aus. Eine abfällige FAZ-Rezension des mächtigen Karl Korn steigerte Schmidts Panik & Angst zur Wut auf die westdeutsche Gegenwart und zur schriftstellerischen Resignation des Dichters.

Kleine Brötchen backen

Während das dreiteilige Steinerne Herz noch unvollendet ist, die von ihm »Lilli« genannte Alice einmal in ihrem Tagebuch klagt, dass sie nur 8 DM zur wöchentlichen Ernährung hat, also »von der Kunst« nicht zu leben ist, entschließen sich die beiden in ihrer materiellen Not, Arnos literaturhistorische Lese- & kuriose Kenntnisfrüchte zu kleinformatigen Brotarbeiten auszubacken und als literarische Brötchen an rund 60 deutsche Metropolen- & Provinzzeitungen in mühsam durch Kohlepapier vervielfältigten Durchschlägen zu schicken.

Der in Darmstadt lebende Kollege Ernst Kreuder, der zu Unrecht in Schmidt einen Claqueur umwirbt und ihn in die Darmstädter Künstlerkolonie holen will, hat den weltfremden Schmidt auf diese journalistische Erwerbsquelle aufmerksam gemacht, von der nicht nur Kreuder (sondern auch Böll u.a. Autoren) damals lebten. So auch nun die Schmidts.

Der gedemütigte Arno, der seinen zettelweise gehorteten Themenvorrat für die handlichen literarischen Backwaren plündert, befürchtet zurecht: »was wir hier machen, ist Ausverkauf«. Alice aber notiert akribisch die Erfolge & Misserfolge (Absage, Rücksendung, Zusage, Belegexemplar) und die laufend eingehenden Kleckerbeträge zwischen 20 und 40 DM pro Beitrag und Zeitung. Beide berechnen, dass sie daraus bei gleichbleibender Produktion und Akzeptanz mit 120 DM monatlich sich über Wasser halten könnten.

Auftritt des Naturalien-Mäzens Wilhelm Michels

Aber ohne die gelegentlichen Paketzuwendungen von Schmidts in den USA lebenden Schwester Lucy, jedoch noch mehr durch häufiger und regelmäßig eintreffende umfängliche, von Alice en detail aufgelistete und wertgeschätzte »Fresspakete« (jeweils zwischen 60 –106 DM!) der im hessischen Kronberg ein Landschulheim betreibenden Erika & Wilhelm Michels, wären die beiden schlesischen »Umsiedler« in Kastel kaum über die Runden ihres eingeschränkten materiellen Lebens gekommen. Auch schicken sie gelegentlich Versorgungspäckchen an Schmidts Mutter in der DDR, die nicht immer ankommen.

Der wahrhaft großzügige Mäzen Michels, dessen Naturalspenden aber doch zugleich schwärender Stachel im Fleisch des sich dadurch »ausgehaltenen«, abhängigen, nicht von seinem Beruf leben könnenden Solipsisten blieben, hatte jedoch eine fatale Illusion: er könne Lebens-Teilhaber & intimer Freund des von ihm politisch & literarisch bewunderten Autors sein.

Nichts war jedoch absurder. Zwar nahm es Schmidt hin, dass die Michels mit ihrem »prächtigen Opel-Kapitän« sie überraschend besuchten, (obwohl er ihnen doch gerade abgeschrieben hatte) & mit ihnen »durchs staunende Dorf« fuhren, wie die beglückte Alice notiert; und als sie mit ihnen im Auto die umliegende Gegend befuhren, verlangte Arno in Saarburg sogar: »bitte hier recht langsam fahren, kaufe hier viel ein, wenn man mich dann in so nem vornehmen Wagen sieht, habe ich mehr Kredit« (Alice). Jedoch Michels’ hochherzige Einladung, mit ihnen nach Jugoslawien (& später nach Griechenland) in Urlaub zu fahren, war für Arno eine unverschämte Zumutung, während Alice nur zu gerne der stationären Zweisamkeits-Misere entflohen wäre & dafür kämpfte, verlor und darum nachhaltig trauerte.

Aber »Nödel«, wie sie ihren strengen Herrn im Hause nannte, verbot es ihr kategorisch – und sein Angebot, allein mit den Michels zu fahren, konnte sie natürlich nicht annehmen. Denn schon nach ihrer 200 km langen Ausfahrt in der Umgebung behauptete Arno, von »zu vielen Bildern« (also optischen Landschaftseindrücken) bedrängt und belastet worden zu sein. Angesichts der in seinen Büchern recycelten Realien der von ihm wahrgenommenen Welt hätte sein ¼uvre eine ganz andere Physiognomie bekommen, wenn sie den Michelsschen Sirenenrufen auf den Balkan gefolgt wären.

Auftritt des künftigen Verlegers Ernst Krawehl

Mitte des Jahres überschlagen sich dann die Ereignisse im stillen Haushalt der Schmidts und führen zu einer ungewöhnlichen Folge von Reisen, die der stationär literarisch brütende Arno mit seinem »Hausebleibensinn« (Alice) hasst. Während Alice in Saarburg mit Bangen Arnos seit seiner Gefangenennahme um 4 Jahre nach oben gefälschtes Geburtsdatum amtlich korrigieren lässt, macht er sich (aus Kostengründen allein) vom 6. bis 9. Juni auf eine dreitägige Bahnreise zu Michels in Kronberg (um auf dessen Grundstück womöglich ein Häuschen zu bauen), nach Darmstadt zu Kreuder (der nicht da ist), nach Stuttgart, wo er u.a. Andersch & Bense – seine literarischen Hauptförderer – trifft und nach Marbach, wo er im Literaturarchiv, zur Aufbesserung ihrer finanziellen Lage, Fouqué-Manuskripte für 1000 DM verkauft.

Der gerade zum Südfunk-Abendstudioleiter avancierte Andersch nimmt Schmidts zweiten Versuch eines Funkessays am 13.8. an: »Wir sind in sehr großer Freude! (…) Und 900 (DM)! Prima, prima! Wenn nur der Gerichtsschatten jetzt nicht wäre, dächte ich doch, dass’s jetzt langsam aufwärts geht mit uns. A. will jetzt auch mehrere Funksachen machen« – was er dann ja auch zu seiner stetigen Haupterwerbsquelle in den nächsten Jahren gemacht hat: Dank der Abendstudioredakteure Alfred Andersch, Martin Walser, H.M. Enzensberger und zuletzt Helmut Heißenbüttel!

Eine Woche später, am 20.8, besucht sie im schwer zugänglichen Kastel für zwei Tage Schmidts künftiger Verleger Ernst Krawehl vom Stahlberg-Verlag, dem Andersch das Manuskript des vollendeten Steinernen Herzens geschickt hatte, und den Alice mit einer Dickens-Figur assoziiert, während Arno »den Philister in Reinkultur« in ihm zu erkennen meint, weil Krawehl, als er von der anhängigen »Gerichtssache« erfährt, merkbar zusammenzuckt, Arno aber dem Verleger brav den ganzen Rückweg dessen Matchback trägt.

Am 22. 8. (also am Tag nach Krawehls Besuch!) kommt es im Amtsgericht Saarburg zur richterlichen Vernehmung des Pornografen und Gotteslästerers durch einen »ältlich verkniffenen kath. Amtsgerichtsrat«. Dabei geht es hoch her, Schmidt trumpft aber selbstbewusst auf und Alice, die sich an das Gebäude »herangepirscht« hat, hört Wortfetzen und zwei laute Stimmen (»Eine ist Arnos«), die durch die wegen der Hitze offenen Fenster nach draußen dringen. Eine tolle Komödien-Szene!

Zuhause finden sie überraschenderweise wieder einmal ein Buchpäckchen von Rowohlt mit Henry Millers Plexus vor – & nach einigen Schnäpsen bricht Arno in eine große Klage aus: »Die wissen alle nicht, was sie tun. Sie müssten mich mit Gold aufwiegen. Was ich hier mache, kann keiner und hat noch keiner gemacht und nun machen sie mir das Leben zur Hölle. Dabei kommen ihm die Tränen. Ist darüber beschämt und beißt in die Schere während ihm die Tränen rollen. (Armer Arno!)« Als er gar meint, er gehöre »eher zu Rowohlt, dem wenn auch besoffenen Radaufritzen als zu so einem bürgerlichen Philister wie Krawehl«, wehrt Alice den sentimentalen Anflug ab und rät zum Abwarten – wie sie überhaupt immer wieder realistischerweise dem schnell aufbrausenden Zorn Arnos, nicht selten um den Preis eines Krachs, diplomatisch zähmt.

Aber in Kastel & dem katholischen Rheinland-Pfalz können sie nicht mehr bleiben: »Wenn der Prozess beginnt, sind wir hier verloren. (…) Also Holzhaus auf Michels Grundstück für 2000 kaufen. Wenn ders erlaubt.« Er tut’s, wenn auch nicht dort, wo von Arno vorgesehen. Am 31. 8. reist Alice allein (»Nödel gew. I komme aber bald wieder«), sieht sich aber von Michels »nicht überwältigend herzlich empfangen«, weil Arno fehlt. Der Hausbau würde erheblich teurer, als sie dachten und die Innenansicht der Michels-Familie lässt Alice auf Distanz gehen, weil sie »aus verschiedenen Anspielungen die er machte«, bemerkt, »was’s doch fürn Bürger ist. Er denke pol. auch wie Arno, aber er sollte doch vorsichtiger im Schreiben sein. Und die Erotik usw.– Oh mai!«

Auftritt des handfesten Retters Eberhard Schlotter

Michels & Alice rufen Kreuder an und informieren ihn über die Dringlichkeit der Flucht aus Kastel. Zugleich sucht man im Umkreis bezahlbare Wohnungen, wird in Sprendlingen, südlich von Frankfurt a.M., fündig und Alice sieht sich gedrängt, einen dubiosen Vorvertrag zu unterzeichnen. Aber als sie Arno telefonisch bei den Nachbarn in Kastel erreicht, freut er sich mitnichten über die neue Bleibe, denn er hat mittlerweile von Prof. Bense das Angebot, an der neu gegründeten Ulmer ›Hochschule für Gestaltung‹ einen mit 750 DM monatlich dotierten Lehrauftrag zu übernehmen. Als Arno nach Kronberg kommt, ist von Sprendlingen nicht mehr die Rede und gemeinsam fährt das Paar zu Bense nach Stuttgart, um Näheres über die Ulmer Verpflichtungen (1 Stunde Vorlesung pro Tag) zu erfahren. Ablehnen kann er das Angebot nicht, angenehm ist es ihm aber auch nicht. So haben sich beide auf etwas eingelassen, um so schnell wie möglich aus dem drohenden Prozess vor dem Trierer Landgericht wegzukommen.

Der unangenehme Schwebezustand wird aber überraschend beendet, nachdem Arno erneut zu einem Gespräch mit Bense nach Stuttgart fährt, aber die zurückgelassene Alice damit überrascht, dass sie in Darmstadt nun doch eine Bleibe finden werden – nachdem sich der Maler Eberhard Schlotter bei den Darmstädter Behörden ins Zeug gelegt hat und am 23. 9. mit einem Lastwagen und Arno im eigenen »prächtigen Borgward« zum Abtransport ihrer Habseligkeiten & Bücher in Kastel eintrifft, die beiden in Saarburg abmeldet und sie vorübergehend bei sich einquartiert, bis sie am 26.9. endlich ihr neues Zuhause in der Inselstraße 42 »für 95 Mark, 1 großes Zimmer, Küche, Bad, Balkon« mit »riesenhohen Räumen, vornehmen Glastüren nach Küche und Wohnzimmer« (Alice) beziehen können. Sprendlingen & Ulm werden abgesagt, Arno & Alice Schmidt (& die Katze Purzel) sind in der Großstadt Darmstadt angekommen – »in der Barbarei« (wie er die Bleibe der nächsten Jahre später nennen wird).

Vorerst lässt sich die Zuflucht gut an, wenn auch der alkoholisierte Kreuder, der an Schlotters Frau herumfummelt, unliebsam auffällig wird, und das schmuddelige bohèmehafte Zuhause der Kreuders dem Putzteufel Alice ein schmutziger »Graus« ist. Aber Arno hat in dem sieben Jahre jüngeren Maler und Grafiker Eberhard Schlotter endlich einen Künstler-Kollegen gefunden, den er auf Augenhöhe respektieren konnte (»Arno sagt: ›Was ich in der Literatur mache, machen Sie im Malen: Alles unnötige Beiwerk auslassen!‹ – Ich war wie erschlagen. Schlotter ist ein große Künstler«, notiert Alice); und dessen uneigennützige, zupackend-spontane Hilfsbereitschaft bei der Flucht aus Kastel hat Schmidt mächtig imponiert. Sofort ist der Schriftsteller-in- (Darmstädter)-residence auch bereit, dem Maler, der ihn um literarische Hilfe bittet, inkognito eine Rede & einen Leserbrief zu schreiben.

Zu Kreuders & deren irrationalistischer Entourage kühlt sich aber das Verhältnis in der Darmstädter Nähe schnell ab, der Journalist Georg Hensel aber beim ›Darmstädter Tagblatt‹ wird wohlwollend gelitten und mit den auf Distanz gehaltenen Michels kommt es noch einmal – weil das von Arno zur Absage erhoffte Glatteis ausblieb – zu einer denk- & merkwürdigen »Bummelfahrt« am 27. 12., die Alice »sehr schön gefunden« hat.

Mit Arno ins Kino & Kabarett

Die Michels waren mit einem befreundeten Studienratsehepaar in ihrem ausladenden Opel Kapitän (»ziemlich eng. Ging aber noch«) in die Inselstraße gekommen. Dann fuhr man über die Autobahn nach Frankfurt in ein Chinesisches Restaurant, später ging man in das Kunstkino »Bambi«, wo man sich René Clairs »Sous les touts de Paris« ansah (den Arno, der endlich einmal begeistert war, schon kannte). Auf Alices Wunsch lief man im Nieselregen zum Main & ging auf eine Brücke, dann fuhr man zu einer Fischbraterei und weil noch Zeit war, »gingen wir in ein prächtig eingerichtetes Cafe«, woran sich der Besuch des pazifistischen Kabaretts »Die Schmiere« anschloss. Aber obwohl dort alles gegeißelt wurde, »für das auch Arno ist, (…) gefiels dem nun aber nicht sonderlich, (…) Ich fands aber prächtig! Mir war alles ganz neu!«

Danach wurden die Freunde der Michels über den nächtlichen Taunus nach Usingen kutschiert, in Michels’ Haus suchte Arno in einem ungebrauchten (!) Historischen Atlas »eine Karte, die er brauchte, aber nicht drin war«, bevor man sich, weit nach Mitternacht, auf die Rückfahrt nach Darmstadt machte. Als Arno die Wohnung betrat, bemerkte Frau Michels, dass er strahlte und »in dem Moment ein ganz anderer Mensch ist, unterwegs war er ganz vermufft« – was er noch abschließend mit dem Resümee krönte, dass für ihn einzig »der Film das schönste« gewesen sei und Michels mit der Behauptung beleidigte, »wie schön er’s doch hätte, als Beamter brauche er nicht so viel zu denken« – wie das unleidige »Gehirntier«, das nur einen Traum hat: »ein kleines Häuschen in der Heide, riesen Zaun drum rum und dann nie mehr raus oder einen Menschen sehen!«

Das war die Vision von Bargfeld, deren Findung Schmidt wiederum den Michels verdanken würde. Als die beiden in der Inselstraße 42 – nachdem Arno noch am 29. Dezember eine Einladung Schlotters, zusammen mit den Malern Grieshaber und Quinte zu feiern, abgelehnt hatte –, an Silvester 1955 sich, wie immer zum Jahreswechsel, die Karten legen, prognostizieren sie den Abergläubigen zum »Jahresende durch großes Glück ein Haus«. Sie werden aber noch knapp 3 Jahre auf Bargfeld warten müssen.

Auch dieses Tagebuch steckt voller idiosynkratischer Merkwürdigkeiten, vor allem Alice Schmidts, deren letzte Worte »allen toten Katzenlieblingen« gelten – nachdem auch diese Aufzeichnungen fast täglich durchschossen sind von einer ebenso penetranten wie grotesken Katzenliebe, die sich auch auf Schnecken erstreckt, die beim Spaziergang von der Straße »gerettet« werden. Die Wut auf das »Friss & Stirb« des »Leviathan« führt sogar einmal dazu, dass Alice ihren geliebten »Purzel« durchprügelt, weil er erfolgreich Katzenjagd gemacht hat, während man einen seltsamen Eindruck von der »verkehrten Welt« in der Psyche Arnos erhält, der weder Widerspruch (»Ich brauche keine Kritik!«) noch Ironie erträgt, und sein Wohlgefallen an ihrer Katze in dem denkwürdigen Satz ausdrückt: »Ein artiger, stiller Mensch ist der Purzel.«

Das wie immer hervorragend annotierte, mit Registern versehene ›Tagebuch‹ enthält auch eine Reihe von Fotos aus Kastel und Darmstadt, darunter aber eines (S.331), auf dem sich Arno Schmidt in Zweireihermantel mit Baskenmütze und Stock vor dem Kasteler Hauseingang aufgebaut hat – als sei er eine Imitation Heinz Erhardts in der Rolle eines spießigen Mathematiklehrers. Der witzige Humorist, dessen Spezialität das Wortspiel war, ist kurioserweise am 5. Juni, zwei Tage nach seinem ihm wohl unbekannten literarischen Zeitgenossen Arno Schmidt, gestorben.

Josef Huerkamp: Der Landschafter auf der HöheGeradezu liebevoll (aber auch kundig) hat Josef Huerkamp das Lebenskapitel Arno Schmidt in Kastel 1951–1955« in seiner gleichnamig untertitelten Recherche am südwestdeutschen Ort mit Texten & Bildern aufgeblättert. Der 200 Meter über dem Saar-Grund liegende Weiler, zu dem man auch über eine Fähre gelangen konnte, war landschaftlich nicht ungeliebt von den Schmidts, wenn Arno auch dort nur von der Heide-Imago träumte, die »Bargfeld« heißen sollte. Immerhin sind in Kastel, wo (wie Huerkamp sein Buch zweideutig betitelt) »Der Landschafter auf der Höhe« war, fünf Romane und Erzählungen entstanden. Für Leser, welche sich anhand der beiden Tagebücher Alice Schmidts nicht nur ein imaginäres, sondern ein realitätshaltigeres Bild von den Lebensumständen, der Landschaft & ihren Menschen machen wollen, unter denen die Schmidts fast vier Jahre lebten, ist Huerkamps Buch sowohl eine Fundgrube als auch eine topografische Vermessung von Örtlichkeiten & ¼uvre.

| WOLFRAM SCHÜTTE

Titelangaben
Alice Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1955
Herausgegeben von Susanne Fischer
Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag
Mit zahlreichen Fotografien von Arno und Alice Schmidt
373 Seiten. 38,00 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Josef Huerkamp: Der Landschafter auf der Höhe
Arno Schmidt in Kastel 1951–1955
Dresden: Neisse Verlag 2008
268 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 45,00 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

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