Die eine Buchhandelskette schaltet zum Erscheinen Radiospots, der andere Filialist räumt den drei bis dato erschienen Bänden eine ganze Regalwand zur Präsentation ein und in den Bestsellerlisten gelingt ihm auf Anhieb der Sprung an den ›Biss‹-Büchern von Stephenie Meyer vorbei unter die ersten drei – die Rede ist von Simon Becketts drittem Thriller um den forensischen Anthropologen David Hunter mit dem schönen Titel ›Leichenblässe‹. Ist angesichts des großen Werbeaufwands der Roman tatsächlich die Mühe des Lesens wert? Nein, sagt BEATE MAINKA …
Leichen pflastern seinen Weg
Was musste der arme David Hunter nicht schon alles erdulden in seinem noch kurzen Serienleben: In Band 1 treffen wir ihn bereits völlig am Boden zerstört an, verlor er doch gerade Frau und Kind bei einem Autounfall. Doch die Forensik baute ihn wieder auf, und auch ein neues Glück lockte.
Nicht nur das wurde ihm dann im zweiten Teil wegen Arbeitsüberlastung gründlich vermasselt, nein, eine Psychopathin rammte ihm auch noch zum guten Schluss ein Messer in den Bauch und läuft als ständige Bedrohung zu Beginn vom dritten Teil immer noch frei herum.
Wen wundert es da, dass unser guter David dringend Erholung braucht, die er in Knoxville, Tennessee, auf der Body-Farm zu finden trachtet, im Kreise lieber alter Kollegen und inmitten von ca. 30 Leichen, die auf einem streng abgeschirmten Areal zu Forschungszwecken in allen Stadien der Verwesung leise vor sich hingammeln.
Kleiner Einschub für die, die es noch nicht wissen sollten: Die Body-Farm, eigentlich Anthroplogical Research Facility der University of Tennessee, existiert tatsächlich und bietet Pathologen, Forensikern und Entomologen breit gefächerte Forschungsmöglichkeiten an Leichen unter Freiluftbedingungen. Nach eigenen Angaben hat Beckett für ›Leichenblässe‹ vor Ort recherchiert.
Doch auch hier ergibt sich bald ein Betätigungsfeld für Hunters Fähigkeiten, als Freund Tom, der Chef der Body Farm, ihn zu einer Ermittlung hinzuzieht, bei der eine höchst unappetitliche Leiche einige Ungereimtheiten aufweist. Und schon steckt unser Brite wieder mitten im Schlamassel, denn er kämpft nicht nur tapfer mit den psychischen und physischen Spätfolgen seiner schweren Verletzung, sondern auch mit dem Argwohn der toughen Amis an seinen Fähigkeiten. Und derweil führt der Täter das gesamte Ermittlungsteam an der oftmals schlimmsten Gerüchen ausgesetzten Nase herum …
Von Larven, Libellen und Zersetzungsprozessen
Dass forensische Anthropologen tote Körper untersuchen, weiß wahrscheinlich jeder, der sich an die Lektüre dieses Thrillers macht. Ob er aber auch wirklich knietief in Schleim, Leichenteilen, Insektengewimmel und Verwesungsgestank waten möchte, sei dahingestellt. Doch er muss, denn daraus bezieht Beckett zum überwiegenden Teil seinen reichlich morbiden Thrill.
Das Ganze verpackt er wissenschaftlich seriös, schließlich gibt es die Body-Farm wirklich, aber über etwas fundierteres Laienwissen geht das nicht hinaus. Und so wandert Hunter von Leiche zu Leiche bis zum finalen Höhepunkt, an dem es – wir sind schließlich in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten – noch einmal so dicke kommt, dass auch noch der letzte Rest Glaubwürdigkeit auf der Strecke bleibt.
Dazwischen Klischees wie gehabt: der unsympathische, egomanische Profiler, der Hunter geflissentlich ignoriert und dafür – wir ahnen es bereits – natürlich als Opfer enden muss, die hochschwangere, allerliebste Gattin eines werten Kollegen, der zunehmend Gefahr droht, und natürlich das Täterprofil, das Beckett uns in kursiven Reflektionen seines Bösewichtes mit schönster Westentaschenpsychologie präsentiert.
Echte Spannung kommt da leider nicht auf, zumal es sich Beckett nebenbei nicht nehmen lässt, ausführlich die Schönheiten der Landschaft zu beschreiben. Das war schon bei Karl May langweilig. Ach ja, die Psychopathin aus Band 2, soviel darf ich verraten, ist immer noch auf freiem Fuß und sorgt bestimmt bald für Angst und Schrecken!
Und dennoch, Becketts Siegeszug ist unaufhaltsam und Band 4 wird im Klappentext bereits angedroht, Hunter wird also weiter jagen. Und wir Kritiker stehen ein weiteres Mal ratlos vor dem Phänomen, dass Bestseller oftmals nicht nur gemacht, sondern auch noch massenhaft gelesen werden.
Auch in meiner kleinen Gemeindebücherei gibt es bereits die ersten Vormerkungen, die Vorgängerbände sind ständig ausgeliehen und werden mit leuchtenden Augen unter den vorwiegend weiblichen Lesern weiterempfohlen. Da kann ich leider nichts machen, außer genussvoll diesen Verriss zu schreiben!
Titelangaben
Simon Beckett: Leichenblässe
(Whispers of the Dead, 2009) Deutsch von Andree Hesse
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2009
416 Seiten, 19,90 Euro
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