Live | Bühne: Marianna Salzmann: SATT
Wenn es zu spät ist, fällt es einem wie Schuppen von den Augen. In Marianna Salzmanns neuem Stück SATT ist es das alltägliche Blindsein sehenden Auges, das in die Katastrophe führt. Der Verlag der Autoren hat uns freundlicherweise eine Vorabversion zu lesen gegeben. Von WILFRIED HAPPEL
Es ist ein uferloses, ein in seinem Überfluss eigentlich selbst schon überflüssig gewordenes Traumland, dem Marianna Salzmanns Bühnenmenschen mit Migrationshintergrund ausgesetzt sind. Die Mutter atmet eine geradezu keimfreie Normalität bis zum Ersticken. Normalität? Nein, es ist nur das Entsetzen, das sich als Normalität verkleidet hat.
Sie hat sich gründlich der deutschen Normalität angepasst, um ihren Töchtern Goscha und Su eine Zukunft in Deutschland zu ermöglichen, so gründlich, dass ihre Töchter sie dafür gründlich verachten. Das Schlimmste, was einer solchen Mutter passieren kann, ist, dass sie ihre Tochter beim öffentlichen Betteln in einer deutschen U-Bahn erwischt. Und das Schlimmste passiert.
Abgetaucht in Müll
Das Schlimmste aber ist nur solange das Schlimmste, bis es noch schlimmer kommt. Su, die jüngere Tochter, geht im SchülerVZ auf Kontaktsuche und hat auch schon einen Fang an der virtuellen Angel: »Fritz the Cat« hat anonym ihr Interesse geweckt und ihre Neugier und vielleicht auch ihre Sehnsucht. Hat man da nicht kürzlich was gelesen? Kommt einem das nicht bekannt vor? Ist da nicht erst gestern wieder was passiert?
Stef, die nicht mehr ganz so junge männliche Underground-Existenz, hat Sus Schwester Goscha beim Betteln in der U-Bahn angesprochen, weil er weiß, wo man hierzulande umsonst Essen kriegt, in Containern hinter Supermärkten zum Beispiel, wo die alten Lebensmittelbestände entsorgt werden, damit in den Regalen Platz für neue Ware ist: »Eine Palette Kümmerling. Nehmen wir.« Seltsames Traumland, in dem zwei junge Erwachsene in eine Mülltonne abtauchen.
Und während die kleine Su und »Fritz the cat« den Weapon-Rekord brechen, treffen sich die große Goscha und Stef bei den U-Bahnschächten: »Und dann laufen wir durch die Tunnel, bis die Bahn kommt.« Das muss nicht, das kann schief gehen. Spannung kommt auf, ein Nervenkitzel, den man eher aus dem Film kennt.
Abgründe ohne Brücken
Einmal hat Su sich mit »Fritz the Cat« bereits »in Guild Wars getroffen, aber er hat mich total lange nicht erkannt, weil ich mich als Junge erschaffen habe.« Klar, dass Mutter und Tochter sich nicht wirklich verstehen können, wenn die eine die offizielle Landessprache, die andere Netzjargon spricht. Verständlich auch, dass die Mutter die Gefahr nicht erkennt, in der die Tochter vielleicht schwebt.
Auch nicht, als Su, die es wohl kaum erwarten kann, ihre Internetrealität endlich mit echter Realität zu tauschen, von ihren »echten« Freunden prahlt, die sie treffen wird, um zu tanzen. Und die Mutter schenkt ihr vor dem Ausgehen auch noch ihren Lippenstift. Es muss nicht, es kann schief gehen.
Das Ende der Kommunikation ist der Keim der Katastrophe. Salzmanns Bühnenfamilie versucht es »redlich«, sie sprechen miteinander, sie reden nicht wenig, wenn auch in knappen Sätzen, aber keiner versteht den Anderen und bis auf Weiteres ist jeder allein. Dabei sind sie gemeinsam hierher gekommen, um in Deutschland die deutsche Sprache zu lernen. Und sie haben die Sprache gelernt.
Sie sprechen sie ebenso gut wie Guido Westerwelle. Nur: Sie können auch Englisch, jedenfalls Netzjargon: 2F4U – too fast for you. AFAIK – as far as I know. Fraglich, ob die Geheimsprache der Chatter einem anderen Zweck dient als dem der Rekrutierung einer quasireligiösen Konsumentengemeinde. Aber welchem anderen Zweck dient denn Sprache noch?
Der Markt jedenfalls gedeiht, dessen Konsumentenhirne so totalgewaschen sind, dass die Eingeweihten im Glauben an die Echtheit des virtuellen Raums schon mal in den Tod gehen. Weil ihnen der Tod die Befreiung aus einer nicht mehr relevanten, nicht mehr nachvollziehbaren Alltagsnormalität erscheint.
Die Mutter, Goscha, Su, auch der Muttersprachler Stef, sie haben die deutsche Sprache gelernt. Jetzt lernen sie, dass eine Sprache sprechen noch lange nicht heißt, sich in dieser Sprache zu verstehen. So sehr sie es versuchen, sie müssen erkennen, dass, wo kein festes Land ist, auch keine Brücken über Abgründe gebaut werden können …
| WILFRIED HAPPEL
| FOTO: THOMAS DASHUBER
Titelangaben
Marianna Salzmann: Satt
Premiere 6. März 2011, Marstall München
Mit: Beatrix Doderer, Anna Keil, Sophie Rogall, Dennis Herrmann
Regie Stefanie Bauerochse
Bühne Thimo Plath
Kostüme Lili Wanner
Musik Moritz Gagern