Die digitale Revolution

Gesellschaft | Matthias Bernold / Sandra Larriva Henaine: Revolution 3.0

Jeder Protest stützt sich auf Waffen. Dazu zählen nicht nur Gewehre und Bajonette: Mit ihren Holzschuhen, »Sabots« genannt, zertrampelten Bauern einst die Ernte, um gegen übermäßige Steuern und Abgaben ihrer Herren zu protestieren. Swingmusik, lange Mäntel und Sonnenbrillen symbolisierten den Protest der »Zazou« gegen das französische Vichy-Regime. Cyber-Rebellen kämpfen heute in der ›Revolution 3.0‹ mit virtuellen Waffen. JÖRG FUCHS wirft mithilfe des gleichnamigen Buchs von Matthias Bernold und Sandra Larriva Henaine einen Blick auf die Motivationen und Mittel digitaler Freiheitskämpfer, bloggender Rebellen und anonymer Aktivisten.

Bernold - Revolution3Zehn Protagonisten des digitalen Widerstands gegen politische Institutionen und herrschende Systeme porträtieren die Autoren, Matthias Bernold und Sandra Larriva Henaine. Dabei gehen sie zum einen der Frage nach, ob Protest, der sich mithilfe des Internets formt und ausdrückt, als politischer Widerstand oder als neue Begeisterung, als »außerparlamentarische« Teilhabe am politischen Prozess, verstanden wird. Andererseits erörtern sie die Einflüsse, die die Neuen Medien auf Protestbewegungen nehmen. Sie stellen die Frage, ob die Informationstechnologie hier als Auslöser, Verstärker oder einfaches Hilfsmittel fungiert.

Gegen die Gewalt – gegen den Sozialstaat

Die Bandbreite der Darstellung reicht dabei von den Studentenprotesten in Wien im Jahr 2009 über lebensgefährliche Aktionen der mexikanischen »Anonymous«-Bewegung und dem Kampf gegen Internet- und Pressezensur in der Türkei bis hin zur Frauenbewegung in Ägypten.

Die Autoren beginnen ihre Betrachtungen mit protestierenden Studenten, die im Jahr 2009 im deutschsprachigen Raum zahlreiche Universitäten besetzten, um gegen Missstände im Bildungswesen zu protestieren. Ausgangspunkt der Bewegung war die Uni Wien; unter dem Slogan »Unibrennt« formte sich eine, zunächst klassisch agierende Protestbewegung, die jedoch durch digitale Rekrutierung per E-Mail und SMS sowie Verbreitung von Informationen über das Internet schnell an Reichweite gewann. Direkt übertragene Videofilme aus dem Zentrum des Protests, ergänzt mit Informationen weckten das Interesse in den Nachbarländern. Exemplarisch wird hier das Medium als Katalysator einer Bewegung dargestellt, das hilft, Protestpotenzial zu »wecken« und durch schnellen Informationsfluss zu vergrößern. Als nachteilig stellte sich heraus, dass das »Zuviel« an Information in einer lose verbundenen Protestgruppe oft destabilisierend wirkt. Zwar existierten viele Stimmen, aber kein zentrales Sprachrohr, um diese zu bündeln. So schnell, wie sich der Protest durch die Nutzung von Informationstechnologien aufbaute, so rasch ebbte er auch wieder ab, flankiert von halbherzigen Zugeständnissen der Politik. Die Bindungskraft der virtuellen Medien war in diesem Fall zu gering, um aus dem Protest eine zielgerichtete politische Wirkungskraft zu kanalisieren.

Eine Bündelung von Interessen, die sich in der Nutzung Neuer Medien spiegelt, stellen die Autoren auch im Falle der ägyptischen Internetaktivistin Sarrah Abdelrahman dar. Laut ihren Schilderungen findet sich der Anlass zum Aufstand in der »analogen« Welt, in den gewalttätigen Aktionen der ägyptischen Polizei. Auch hier wirkt das Internet als Katalysator, Verstärker und Informationsmedium. Und auch hier zeigt sich, dass die etablierten politischen Eliten mit ihren »realen« Netzwerken zumindest vorläufig eine größere normative Kraft besitzen, als die flüchtigen Verbindungen der virtuellen Welt. Welche Rolle die Neuen Medien in Bezug auf die zukünftige politische Entwicklung spielen, wird sich erweisen.

In weiteren Porträts schildern die Autoren die Auseinandersetzung von Gruppen oder Einzelnen gegenüber gesellschaftlichen Phänomenen; die Motivationen der Protagonisten sind dabei gänzlich unterschiedlich: Die ägyptische Frauenrechtlerin Amani El Tunsi kämpft mit ihrem Online-Radio für eine Gleichberechtigung der Geschlechter – denn sie sieht die Frauen als Verliererinnen der von den Neuen Medien beflügelten Revolution. Der schweizer Geschäftsmann Daniel Model hingegen möchte sich einen persönlichen Rückzugsort auf der Flucht vor dem in seinen Augen gierigen Sozialstaat der Schweiz errichten. In einem utopischen »Avalon«, einem ästhetischen Modellstaat, sollen sich seine Anhänger durch den Umgang mit dem »Schönen« künstlerisch, geistig und spirituell bereichern. Die Rolle der Informationstechnologien bleibt in diesem Beispiel jedoch im Dunklen. Das einzige Beispiel, der erfolglose und mittlerweile eingestellte Online-Fernsehsender rebell.tv, den Daniel Model aus der Taufe hob, wird in diesem Beitrag lediglich am Rande erwähnt.

»Fucking frustration«

Die Lektüre der zehn kurzen – und kurzweiligen – Reportagen verfestigt die Vorstellung davon, dass Internet-Aktivismus zwar kurzfristig und rasant zu gesellschaftlichen Änderungen führen kann; vor allem dort, wo Konflikte bereits latent oder offen brodeln. Zur Herausbildung von charismatischen »Führerfiguren«, die in der Lage wären, langfristiges Protestpotenzial zu bündeln und zu leiten hat der Einsatz Neuer Medien bislang kaum geführt. Ausnahmen, wie der Wikileaks-Gründer Julian Assange, dessen Whistleblower-Netzwerk 2010 noch in aller Munde war, machen sich durch ebensolche Präsenz, die oft im Kontrast zur virtuellen Unterstützerschar steht, angreifbar.

Das Buch bietet interessante Einblicke in die individuellen Motivationen von Netzaktivisten und deren Auswirkungen auf Protestbewegungen. Es wird deutlich, dass am Anfang einer Protestbewegung stets ein unhaltbarer Zustand steht, der durch die individuelle Nutzung von Neuen Medien rasch das Interesse einer Gemeinschaft auf sich zieht. Wie bei einem Schneeball, der sich zu einer Lawine formt, folgen weitere Aktionen, die wiederum medial verstärkt werden. Als häufige Ursache nennen die porträtierten Aktivisten Frustration über scheinbar unabänderliche gesellschaftliche Konflikte: »Twitter hat wahrscheinlich mehr Lob bekommen, als es verdient!«, resümiert die ägyptische Internetaktivistin Sarrah Abdelrahman über die Rolle der Informationstechnologie im »Arabischen Frühling«. »Weißt Du, was wirklich eine Revolution auslöst? Fucking frustration.« (Das Video zeigt ein Inteview Abdelrahmans im südafrikanischen Fernsehen, in dessen Verlauf sie auf Motive und Auswirkungen der ägyptischen Protestbewegung sowie die Rolle der Neuen Medien eingeht).

Kritik an der häufig geäußerten Rolle des Internets wird auch im Zusammenhang mit dem Phänomen des »Klicktivismus« geäußert, also beispielsweise dem Zeichnen von Online-Petitionen. Es fällt eben leichter, anonym vom heimischen Sofa aus einen »Like-« Button zu drücken, als auf der Straße vor Pfefferspraydosen und aufgepflanzten Gewehren der Polizei Gesundheit und Leben zu riskieren.

Kein Allheilmittel

Da die Autoren nicht den Fehler begehen, nach der Technik als Allheilmittel gesellschaftlicher Konflikte zu fragen, lernen wir viel über die individuellen Aneignungsstrategien neuer Internetmedien. Sie stellen Hilfsmittel dar, mit deren unbekümmerter Handhabung die »Digital Natives«, also diejenigen, die mit diesen Technologien aufgewachsen sind und keinerlei Berührungsängste kennen, scheinbar fest gefügte Konstellationen verändern können.

Deutlich werden aber auch die Grenzen der Technik aufgezeigt. Das Vakuum nach einem erfolgreichen Protest kann nicht durch das Wirken einer anonymen, digitalen Masse gefüllt werden. Hier kommen oft die Protagonisten bestehender Eliten mit ihren etablierten Netzwerken zum Zuge. Es entsteht an manchen Stellen im Buch der Eindruck, als wollten sich viele Online-Rebellen überhaupt nicht im realen politischen Prozess exponieren, sondern weiterhin als »Opinion-Leader« im Web Meinungen gestalten. Einen Sonderfall stellt Island dar, dessen Politik heutzutage stark von personellen und ideellen Einflüssen der Netzaktivisten geprägt ist.

Dankenswerterweise verzichtet das Autorenduo auf ausufernden Technik-Sprech. Viele Begriffe der virtuellen Protestbewegung wie »IRC«, »Hashtag« oder »Ionen-Kanone« (ein Programm, mit dem Webseiten durch Fernabfrage lahmgelegt werden können) werden für Laien nachvollziehbar erklärt; auch wenn manche Techniken mit Fachvokabular erläutert werden, die eigentlich weiteres Vorwissen benötigen.

Etwas gewöhnungsbedürftig stellt sich für die dudenkonditionierte deutsche Leserschaft der Einsatz der schweizerischen Rechtschreibung dar, an der das Auge ab und an hängen bleibt – was den Lesefluss von Zeit zu Zeit unterbricht, den Lesegenuss aber letztlich nicht schmälert.

Gegegenschläge – »Digital Countermeasure«

Einen wichtigen Punkt im Einsatz der digitalen Waffen haben die Autoren jedoch vernachlässigt: Nicht nur die Internet-Aktivisten profitieren von den neuen Internettechnologien. Auch Strafverfolger, Geheimdienste und staatlichen Institutionen rüsten digital auf. Dieses geschieht in der Regel ohne diejenigen Kontrollmechanismen, die sich beim Verkauf »realer« Waffen finden – sodass über Vertriebskanäle und Ausmaße des digitalen »Countermeasures«, also Abwehrstrategien, meist wenig bekannt ist.

Dabei sind die Einsatzmöglichkeiten und -gebiete zur digitalen Überwachung mittlerweile sehr umfangreich: Beispiele dafür finden sich vor allem in »geleakten« Dokumenten: So soll die Firma Amesys mit Wissen französischer Behörden Überwachungssoftware an die libysche Regierung verkauft haben, um dessen Geheimdienst zu ermöglichen, britische Journalisten auszuspionieren, die über den Familienclan der Gaddafis recherchierten.

Wie unkontrolliert der Verkauf digitaler Überwachungstechniken vonstattengeht, berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg: Ausgerechnet die israelische Internet-Überwachungssoftware NetEnforcer erwarb der Iran, um damit im eigenen Lande regimekritische Blogger und Aktivisten aufzuspüren. Weder die iranische noch die israelische Regierung waren sich über den jeweiligen Handelspartner im Klaren, da der Verkauf zu Verschleierungszwecken über einen Zwischenhändler in Dänemark abgewickelt wurde.

Nicht nur staatliche Stellen lernen die Möglichkeiten der digitalen Überwachung zu schätzen –auch sizilianische Mafiaclans sollen solche Techniken einsetzen, um mit ihrer Hilfe Journalisten aufzuspüren, die kriminellen Machenschaften auf der Spur sind. Der Enthüllungsskandal um die US-amerikanische Sicherheitsfirma HBGary, die mit ihrer Software kritische Internetaktivisten diskreditieren und Facebook-Foren unterwandern wollte – und dafür von Anonymous-Hackern an den Pranger gestellt wurde – zeigt lediglich die Spitze des Eisbergs im Informationskrieg.

Die nahezu unkontrollierte »Proliferation« digitaler Waffen und Massenüberwachungstechniken wirft die Frage auf, ob sich der Einsatz der Neuen Medien im Rahmen von Protestaktionen zu einem Bumerang entwickelt kann, der möglicherweise auf die Aktivisten zurückfällt. Hier wären Erfahrungen und Einschätzungen der porträtierten Protagonisten wertvoll gewesen.

| JÖRG FUCHS

Titelangaben
Matthias Bernold / Sandra Larriva Henaine: Revolution 3.0 – Die neuen Rebellen und ihre digitalen Waffen
Zürich: Xanthippe 2011
162 Seiten, 19,90 Euro

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