Der Schatz aus dem Archiv

Musik | Platte: Keith Jarrett: Sleeper

Eine Generation ist herangewachsen, für die Jazz und Jarrett Synonyme sind. So erfolgreich war in den Jahren, da Rock und Pop den Ton angaben, kein Jazzmusiker wie Keith Jarrett. Sein Köln Concert wurde, was man heute Kult nennt. Es drehte sich auf den Plattentellern zwischen Leonard Cohen und Eric Clapton. Der in jenen Jahren viel beschworene Gegensatz von »Kopf« und »Bauch«, von Intelligenz und Gefühl kam bei dieser Musik gar nicht erst auf. Und die Rede vom Tod des Jazz verstummte, jedenfalls vorübergehend. Von THOMAS ROTHSCHILD

SleeperSchon ein Jahr vor dem Köln Concert, von dem im Lauf der Jahre fast vier Millionen Exemplare verkauf wurden, erschien bei ECM eine LP mit einem Quartett, das mangels eines Namens gemeinhin nach dem Titel der Platte Belonging-Quartett genannt wurde. Es bestand aus Keith Jarrett am Klavier, Jan Garbarek am Saxophon, bevorzugt am Sopransaxophon, Palle Danielsson am Kontrabass und Jon Christensen am Schlagzeug. Für viele Jazzfans war Belonging zumindest so aufregend wie The Köln Concert. Das Quartett machte noch eine ganze Reihe von Aufnahmen, von denen ECM einige, wohl aus Angst vor der Übersättigung des Marktes, erst mit Verspätung in Scheiben presste. Die skandinavisch-amerikanische Symbiose war vollkommen. So aus einem Guss klingen nur wenige Quartette der Jazzgeschichte.

Nun hat Manfred Eicher nach 33 Jahren Bänder aus seinem Archiv gehoben, die in Tokyo mit diesem Quartett aufgenommen wurden, doch sie haben nichts Archivarisches an sich, sind lebendig, als wären sie eben erst eingespielt worden. Sieben Stücke enthält die Doppel-CD mit dem schönen Titel Sleeper, da sie doch, wie ein »Schläfer« einer terroristischen Vereinigung, unbemerkt auf ihren Einsatz warten mussten. Sie demonstrieren die ganze Vielfalt von Jarretts stilistischen Möglichkeiten. Sie weisen voraus auf spätere Konzerte und Aufnahmen Jarretts, auf seine Soloimprovisationen und seine Interpretationen von Standards. Mühelos wechselt der Ausnahmepianist von der Entwicklung melodischer Linien zum akkordischen Spiel, von der dichten Ausführung zu pointillistischen Andeutungen. Manchmal hat man den Eindruck, als wolle er die Geschichte des Jazzpianos herbeizitieren, einzelne Vorläufer nicht so sehr parodieren, wie ihnen Reverenz erweisen. Garbarek wiederum schlägt seinen ganz eigenen, unverwechselbaren Ton an. Nach den Jahren des ungebändigten Bebop führt er das Saxophon zu einer oft folkloristisch inspirierten Liedhaftigkeit zurück. Sidney Bechet ist ihm nicht weniger nah als John Coltrane oder Wayne Shorter.

Alle Titel wurden von Keith Jarrett komponiert. Das 21-minütige Eingangsstück »Personal Mountains« geht bruchlos in »Innocence« über. Auf das orientalisierende »Oasis«, das die zweite CD mit einer Flötenimprovisation Garbareks über grundierendem Bass und Schlagzeug eröffnet, folgt Funk vom Besten: »Chant of the Soil«. Das Quartett changiert zwischen synkopiertem Rhythmus und balladeskem Lyrizismus. Und das ganze Konzert, das keinen Augenblick durchhängt, ist ein Musterbeispiel für eine kluge Dramaturgie. Es hört sich an wie eine Einheit, auch wenn jedes der sieben Stücke autonom ist. Es hat das Zeug, ein Klassiker zu werden – auch mit 33 Jahren Verzögerung noch.

| THOMAS ROTHSCHILD

Titelangaben
Keith Jarrett: Sleeper – ECM

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Fluxus als Haltung

Nächster Artikel

Apokalypse surreal

Weitere Artikel der Kategorie »Platte«

Dreaming Of The Apocalypse Girl: June’s New Albums Pt. One.

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world There is a curious, yet electrifying mix of light and dark in this month’s new album releases! For every piece of sunny Balearic brilliance there is an angry scream into the night. For every slice of languid chill-out there is a funky guitar lick, or a hammering techno beat. All of which makes June a fantastic time to own a working pair of ears. By JOHN BITTLES

Ghost Culture with the Grim Reaper

Music | Bittles‘ Magazine Some people say that there is no good music released in January and early February. But, as we all know, some people talk shit! It is true that no one is bothering to tour, and hot new releases are thin on the ground. Yet, there is still some wonderful music out there to be found. By JOHN BITTLES

Folkdays … Vorfahren-Ortung von Lindi Ortega

Musik | Lindi Ortega: Liberty Migration und Kultur. Ich habe als Künstlerin und Autorin die kulturellen Veröffentlichungen und die künstlerische Situation internationaler Kulturschaffender auf dem Schreibtisch und in unseren Kulturzentren und Kunsttempeln. Auch in Liedern spiegeln sich Grenzsituationen wider. Von TINA KAROLINA STAUNER

Folkdays… Strong and fragile at the same time

Musik | Randi Tytingvåg: Roots & Wings Eine markante Folk-Frau ist Randi Tytingvåg aus Stavanger. Sie hat ihre musikalischen Wurzeln zwar im norwegischen Folk und in Jazzmusik, stellt aber derzeit sehr amerikanesque eine Geschichtenerzählerin mit eigensinnig klingender akustischer Gitarre und starker Stimme dar. Eine Momentaufnahme von TINA KAROLINA STAUNER

Folkdays aren’t over … Daniel Kahn & The Painted Bird

Musik | Daniel Kahn & The Painted Bird: The Butcher’s Share Daniel Kahn & The Painted Bird mit ›Bad Old Songs‹: Jiddischlandgetönte Mitternachtsträume – »we grew to cross many borders, different roads, different homes« (Daniel Kahn). Von TINA KAROLINA STAUNER