Kein Leben ohne Tod

Kulturbuch | Reiner Sörries: Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer

Es mag verblüffen, dass der Titel »Highway To Hell« von AC/DC zu den Top Ten der beliebtesten Begleitlieder bei Trauerfeiern zählt. Doch das ist nicht die einzige Überraschung, die Reiner Sörries bereithält. Er widmet sich in seinem Buch Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer eingehend dem Phänomen der Trauer. Von BETTINA VOGEL VON FROMMANNSHAUSEN

TrauerDie Ansicht, der Tod sei ein gesellschaftliches Tabuthema, ist weit verbreitet. Doch wie stichhaltig ist diese Aussage wirklich? Reiner Sörries zeigt, dass Tod und Trauer medial selten so präsent waren wie heute. Die Ausdrucksweisen der Trauer haben sich jedoch in den letzten Jahren stark geändert, vervielfacht. Der Wandel in der Trauerkultur macht außerdem deutlich, dass Trauer immer eng an gesellschaftliche Entwicklungen gebunden ist. Der Umgang mit den Toten verrät vieles über die Lebenden. So lautet Sörries zentrale These: »Trauer ist keine menschliche Konstante, sondern ein kulturell erlernter Prozess.«

Reiner Sörries ist Professor für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte in Erlangen. Außerdem leitet der Theologe und Kunsthistoriker seit 1992 die Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal und ist Direktor des Zentralinstituts und Museums für Sepulkralkultur in Kassel. Er zeigt in seiner Kulturgeschichte, wie die Aspekte der Trauer aus religiösen, historischen, kulturellen oder auch politischen Gegebenheiten erklärbar sind. Schwerpunkt der Ausführungen ist das christlich geprägte Mitteleuropa. Anschauliche Beispiele aus anderen Kulturräumen untermauern die These von der Trauer als gesellschaftlichem Phänomen. Dabei stellt der Autor häufig das Früher und das Heute gegenüber.
Trauer früher und heute

Die wichtigste Funktion der Trauer ist es, den Trauernden wieder ins Leben, in den Alltag, zu verhelfen. Bis weit ins 20. Jahrhundert war das Trauerverhalten kanonisiert, wurde kollektiv bewältigt, um »die Intaktheit einer Gruppe wiederherzustellen.« Mit Trauer waren damit auch Pflichten verbunden, die beispielsweise das Einhalten von Trauerzeiten oder Kleidervorschriften betrafen.

In den letzten Jahrzehnten löste sich Trauer von gesellschaftlich festgesetzten Regeln. Sie wurde immer individueller, auch emotionaler. Viele heute noch praktizierte Rituale haben ihre Bedeutung, ihre Funktion, verloren. Traditionelle Handlungen sind oft Trennungsrituale, die mit der Angst vor der Wiederkehr des Verstorbenen verbunden sind. So blieb der Leichnam bei der Totenwache unter Beobachtung. Der Sarg wurde mit den Füßen voran aus dem Sterbezimmer getragen. Dadurch sollte verhindert werden, dass der Tote auf das zurückblickt, was er hinterlässt, und möglicherweise »zum Wiedergänger« wird. Die Sargträger trugen weiße Handschuhe, die mit ins Grab geworfen wurden, um jeden Kontakt mit dem Toten zu vermeiden. Der dreifache Erdwurf am Grab diente im Sinne eines symbolischen Zuschaufelns ebenfalls der endgültigen Trennung.

Der Erdwurf wird heutzutage häufig durch einen Blumenwurf ersetzt. Das ursprüngliche Trennungsritual hat damit seine Bedeutung verloren und wurde in ein Bleiberitual verwandelt. Diese Umkehr der Ritualsymbolik in heutiger Zeit kann problematisch sein, so Sörries. Trauerhandlungen werden häufig nicht mehr als Abschieds- und Trennungsgeleit verstanden. Vielmehr ist die Tendenz zu erkennen, den Verstorbenen bei sich behalten zu wollen, die Härte des Tods zu verschleiern, damit aber auch einen Abschied zu verhindern. Der Bestattungsmarkt unterstützt diese Entwicklung mitunter, z. B. durch Erinnerungsdiamanten oder Medaillons aus der Asche des Toten.

Alternative Bestattungs- und Gedenkmöglichkeiten erklären die Flut an Trauerratgebern. Auch neue Berufsbilder wie Ritualdesigner oder Trauerbgleiter zeigen einen Wandel im Trauerverhalten an.

Trauer ist seit den späten 1970er Jahren auch Teil von Jugendkulturen. »Der Tod wurde populär.« Reiner Sörries bemerkt, dass der Reiz von Trauer und Tod ein Lebensgefühl, eine melancholische Grundhaltung, beförderte, die inzwischen vollkommen gesellschaftsfähig zur Mode geworden ist. Als Vorläufer dieser Trauerhaltung beschreibt Sörries den romantischen Weltschmerz oder die Melancholie.

Das Buch Herzliches Beileid beleuchtet das Phänomen der Trauer von allen Seiten. Beispiele aus Geschichte und Gegenwart, aus Kunst und Literatur, aus historischen Quellen und dem Internet, aus Museen und Statistiken, aus Nachbarschaft und fernen Ländern geben einen eindrucksvollen Überblick über den Umgang mit dem Tod. Die Lektüre ist auf jeder Seite fesselnd und regt zum Nachdenken, mitunter auch zum Schmunzeln an.

| BETTINA VOGEL VON FROMMANNSHAUSEN

Titelangaben
Reiner Sörries: Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer
Darmstadt: Primus 2012
56 Seiten, 24,90 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Alte neue Überfremdungsfantasien

Nächster Artikel

China zeigt sein wahres Gesicht

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Musikalisches Potpourri

Musik | Colm Boyd: Book of Songs

Colm Boyd ist ein irischer Musikblogger, und mit seinem »Book of Songs« wird er besonders jene Musikfans faszinieren, deren Interesse ein wenig übers einfache Musik-Konsumieren hinausgeht, denn: da ist garantiert für jeden etwas dabei, für jeden Geschmack, jedes Alter, jede Generation. Und während man die Klänge im Ohr hat, liest man Dinge, die man vorher sicher nicht immer wusste. So auch BARBARA WEGMANN

Ein Kimono ist auch bloß ein Dirndl

Kulturbuch | Matthias Politycki: Schrecklich schön und weit und wild Verreisen ist zu einem Volkssport geworden. Sobald man aus der Haustür tritt, sieht man Menschen, die zumindest einen Rollkoffer hinter sich herziehen. Auch Matthias Politycki ist viel herumgekommen und fand es ›Schrecklich schön und weit und wild‹. Seine Kulturgeschichte des modernen Reisens beschäftigt sich mit der Frage: Was treibt uns eigentlich in die Ferne? INGEBORG JAISER folgt ihm gemütlich vom heimischen Sofa aus.

Totaler Grenzüberschreitungskickwahnsinn

Kulturbuch | Jürgen Teipel: Mehr als laut DJs erzählen. Von Partys und ständigem Unterwegssein. Von Beziehungen und Lampenfieber. Ekstase und Drogen. Euphorie und Depression. In seinem Doku-Roman Mehr als laut lässt Jürgen Teipel seine Protagonisten selbst zu Wort kommen und entlockt ihnen ganz persönliche Geschichten über die wilde Clubkultur der 90er Jahre. Ein Buch, zwanzig Interviews. Von EVA HENTER-BESTING

Verkehrssystem im Eiltempo

Kulturbuch | Hendrik Ammoser: Das Buch vom Verkehr Einer globalisierten Welt liegt die Mobilität von Waren, Dienstleistungen und Menschen zugrunde. Wie gestalten sich Mobilitätskonzepte und -strukturen? Welche Entwicklungen haben sie bis zum heutigen Tag durchlaufen – und wie können wir sie uns nutzbar machen? ›Das Buch vom Verkehr‹ sucht Antworten. Und passt sich dabei in seinem Stil dem Thema an. JÖRG FUCHS auf der Spur des Transports – zu Wasser, zu Lande und in der Luft.

Rede als praktizierte Macht

Kulturbuch | Karl-Heinz Göttert: Mythos Redemacht Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 In seiner umfangreichen Untersuchung über Rhetorik arbeitet Karl-Heinz Göttert die von der europäischen Antike ausgehende Tradition der Rede als Mittel der Machtausübung heraus. Wenngleich er sich dabei kühn zwischen den Jahrhunderten bewegt, zeigt sich ein erstaunlich stabiles Prinzip. Der Redner wolle »sein Gegenüber beeindrucken, ihn regelrecht unterwerfen, indem er kunstvoll redet«, Göttert sieht einen überlegenen Redner und den passiven Zuhörer. Von WOLF SENFF