Kulturbuch | Christine Sauer (Hg.): Handwerk im Mittelalter
Wie finster war das redensartlich dunkle Mittelalter wirklich? Der Mangel an schriftlichen Quellen hat die Jahrhunderte zwischen Spätantike und Neuzeit oft ins düstere Zwielicht kultureller Rückständigkeit gestellt. Diese Ansicht wurde in den letzten Jahrzehnten durch intensive Forschung, durch Ausstellungen, Filme und Bücher revidiert. Die Folge: Mittelalterbegeisterung. Auch das Buch Handwerk im Mittelalter, herausgegeben von Christine Sauer, leuchtet das Zeitalter wieder etwas mehr aus. Von BETTINA VOGEL VON FROMMANNSHAUSEN
Die Stadtbibliothek Nürnberg bewahrt in ihrem Bestand zwei Handschriften, die für die Mittelalterforschung von enormer Bedeutung sind: die Hausbücher der Nürnberger Zwölfbrüderstiftungen, d. h. der Mendelschen und der Landauerschen Zwölfbrüderstiftung. Die Stiftungen galten der Armenfürsorge. Sie nahmen ab dem 14. Jahrhundert Männer auf, die sich nicht mehr von ihrer Arbeit ernähren konnten. Jeder von ihnen wurde in das Hausbuch eingetragen, mit Angaben zum Beruf und einem Bild, das ihn bei der Arbeit darstellte. Damit dokumentieren die bebilderten Handschriften detailliert das mittelalterliche Handwerkswesen. Die Kunsthistorikerin Christine Sauer und elf weitere Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen haben nun diese Chroniken ausgewertet und ermöglichen mit der Publikation Handwerk im Mittelalter einen Einblick in den damaligen städtischen Alltag.
Unter strenger Aufsicht
In Nürnberg zählte man 1363 schon fünfzig Handwerksberufe. Viele davon gibt es heute noch, einige sind mit der Entwicklung technischer Innovationen verschwunden, z. B. der Pergamenter oder der Harnischmacher.
Ausgehend vom Rohmaterial, z. B. Stein, Holz, Ton, Glas, Knochen, Wolle, Haut, präsentieren die Autoren in dreizehn Beiträgen Verarbeitungsprozesse und die damit einhergehende Ausdifferenzierung der Berufe. Auch Informationen über Lehr- und Wanderjahre, Arbeitszeiten und -bedingungen, Zunftorganisationen, erste Streiks und Dumpinglohnentwicklungen, aber auch über Werkzeuge, Endprodukte, Arbeitsorte und den Vertrieb zeichnen ein lebendiges Bild der vorindustriellen Arbeitswelt.
Beeindruckend ist nicht nur die Bandbreite an Berufen, die es im 14. Jahrhundert bereits gab, auch die Menge der produzierten Ware lässt staunen. So hätte man beispielsweise mit dem jährlich in Nürnberg gesponnenen Garn 6,5-mal den Äquator umrunden können. Auch lassen sich anhand der Produkte Moden, z. B. für Kleidung, Schmuck oder Tischdekoration, ablesen. Aber jede Möglichkeit, Geld zu verdienen, setzte auch immer zugleich die Fantasie in Gang, nach Strategien der persönlichen Vorteilnahme zu suchen. Dies bedingte wiederum eine intensive Gewerbeaufsicht, die u. a. für Silber- und Goldschmiede besonders strenge Reglementierungen vorsah.
Der Band ist reich bebildert und ermöglicht eine anschauliche und kurzweilige Lektüre. Mit Eleganz ist den Autoren der Spagat zwischen wissenschaftlicher Analyse und spannendem Mittelalterpanorama gelungen.
| BETTINA VOGEL VON FROMMANNSHAUSEN
Titelangaben
Christine Sauer (Hg.): Handwerk im Mittelalter
Darmstadt: Primus 2012
192 Seiten. 39,90 Euro