Was vom Tage übrig bleibt

Wenn die Nacht am stillsten ist, zählt jeder Moment, jeder Ton, jeder Lichtreflex. Arezu Weitholz hat eine gleichermaßen hellsichtige wie melancholische Lebens- und Liebesgeschichte geschrieben – findet INGEBORG JAISER.


Arezu Weitholz: Wenn die Nacht am stillsten ist
Er ist diszipliniert und distinguiert, unnahbar und unantastbar. Er ist der Überflieger, der »Chefschweiger«, der einsame Cowboy. Er hat über Thomas Bernhard und Samuel Beckett promoviert und sich dann auf die Überholspur eingeschossen. Seine Reportagen gehören zu den brillantesten des Hamburger Gesellschaftsmagazins, bei dem er wie versehentlich gelandet ist. Denn eigentlich ist er als mehrfacher Buchautor zu Höherem bestimmt. Ludwig Faller ist ein cooler Hund – und er weiß es ganz genau.

Poptrottel und verhinderte Spießer

Selbstverliebt und egomanisch sonnt sich Ludwig in einer Aura von Intelligenz und Männlichkeit. In seinen Kreisen trägt man die richtigen Schuhe (»Vintage Nikes und Old School Adidas«), liest die richtigen Bücher und steht auf Konzerten gelangweilt herum. In der Hackordnung der Redaktion ist Ludwig ganz oben angesiedelt. Auf »das Medienprekariat mit Ramones-T-Shirts, ohne Rentenversicherung – im Kern verhinderte Spießer« – blickt er verächtlich herab.

In dieses abgeschlossene Universum, diese Redaktion der »Poptrotte«, dringt plötzliche Anne ein, unpassend und fremd wie eine Außerirdische. Sie trägt die falschen Klamotten, hört die falsche Musik, hat die falschen Ansichten und vor allem die falsche Vergangenheit. Es dauert eine Weile, bis sie sich dem allgemeinen Dresscode der »Mädchen« anpasst, ihre bequemen Baggy-Jeans austauscht gegen »eine Ralph-Lauren-Kapuzenjacke für ungeheure zweihundert Mark« und ein paar pastellfarbene Blusen von H&M. Was ist schon vorzeigbar aus ihrem vergangenen Leben? Nicht der Selbstmord des Vaters, die Depression der Mutter, ihr Aufenthalt als DJ in Südafrika (»Für Neger in Afrika Platten auflegen«), die Erfahrungen mit Drogen, Gewalt, Gefängnis.

Zwischen Hip-Hop und House

Dass ausgerechnet Ludwig und Anne ein Paar werden, muss verheimlicht werden. Ihr Scheitern scheint vorprogrammiert zu sein. Wenn die Nacht am stillsten ist erzählt von der Anmaßung des Unmöglichen, der Unvereinbarkeit zweier Welten. Der Roman beginnt am absoluten Tiefpunkt, am Ende eines sehr langen, sehr unheilvollen Tages, der zum Bersten vollgepackt ist mit schlechten Nachrichten. Ludwig liegt mit einer Überdosis Schlaftabletten in seiner durchgestylten Wohnung. Und Anna erzählt mitten in der Nacht in einem weit ausholenden Monolog von all den Dingen, die der Freund stets selbstherrlich von sich gewiesen hat: von ihren düsteren Erfahrungen, dem Abschiedsbrief des Vaters, der Mutter im Pflegeheim.

Dass dieser Roman, der in den 90er Jahren spielt – zwischen Hip-Hop- und House-Fraktionen, zwischen Bundfaltenhosen und Lambswoolpullovern – zu den hellsichtigsten der aktuellen Neuerscheinungen zählt, liegt an seiner bedingungslosen Sprache. Hier sitzt jedes Wort, jeder Satz. Kein Wunder, schließlich kennt die Autorin Arezu Weitholz den Kosmos, den sie beschreibt, in- und auswendig. Als Journalistin für Lifestyle-Magazine, die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Als Liedtexterin und Lektorin für Grönemeyer, Udo Lindenberg, die Toten Hosen. Als Lyrikerin und Illustratorin.

Sie kennt die Mechanismen des Musikgeschäftes und der Medienwelt, sie kennt »das Fußvolk, das in Schallplattenläden arbeitet, bei Nachrichtenmagazinen, beim Fernsehen, im Marketing, irgendwo in den großen Ideen-Häckslern.« Einige Facetten ihres Lebens hat sie ihren Protagonisten Anna und Ludwig geliehen. Authentisch, rückhaltlos, aufrichtig. Mit einer spürbaren Prise Melancholie.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Arezu Weitholz: Wenn die Nacht am stillsten ist
München: Kunstmann 2012
222 Seiten. 17,95 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Get to the choppa!

Nächster Artikel

When shall we three meet again

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Aufarbeitung erwünscht!

Roman | Nanni Balestrini: Der Verleger

Der Roman ›Der Verleger‹ von Nanni Balestrini, des 2019 verstorbenen italienischen Schriftstellers und Mitbegründers der ›Gruppo 63‹, der auch Umberto Eco angehörte, ist im italienischen Original bereits vor mehr als 30 Jahren erschienen und erzählt das tragische Ende des italienischen Verlegers und linken Aktivisten Giangiacomo Feltrinelli, der 1972 bei einem Sabotageakt – er wollte mit der Sprengung eines zentralen Strommasts die Stromversorgung Mailands unterbrechen – ums Leben gekommen war. Die Umstände seines Todes – vielleicht war er nicht alleine und es war doch Mord? – wurden nie restlos aufgeklärt. Die Neuausgabe von ›Der Verleger‹ ist bei Assoziation A erschienen. Von HUBERT HOLZMANN

Das Vergehen der Zeit

Roman | Gregor Sander: Alles richtig gemacht »Es interessiert mich beim Erzählen: das Vergehen von Zeit. Und was es mit Menschen macht«, bekundete der 51-jährige Schriftsteller Gregor Sander kürzlich in einem Interview über seinen nun erschienenen dritten Roman. Nach einer Schlosserlehre hatte er zunächst in Rostock Medizin studiert und war dann (wie seine Protagonisten) nach Berlin gezogen und zur Germanistik und Philosophie gewechselt. PETER MOHR über Gregor Sanders neuen Roman ›Alles richtig gemacht‹

Literat und Politiker

Menschen| Mario Vargas Llosa Vielfältig sind die Themen der Romane, Essays und Artikel des peruanischen Schriftstellers und Journalisten Mario Vargas Llosa, dessen Gesamtwerk mehrfach ausgezeichnet wurde. Eine Würdigung zum 80. Geburtstag von BETTINA GUTIÉRREZ

Der Robin Hood von L.A.

Roman | Ryan Gattis: Safe Vor anderthalb Jahren erregte der in Los Angeles lebende Ryan Gattis (Jahrgang 1987) mit seinem Debütroman In den Straßen die Wut große Aufmerksamkeit. Nun hat er einen zweiten Roman vorgelegt. Wieder ist Gattis Heimatstadt die Kulisse für ein atemberaubendes Gangsterstück. Und ging es in dem Erstling um die 1992er Unruhen nach dem Freispruch für vier Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King ein Jahr vorher nach einer wilden Verfolgungsjagd unverhältnismäßig brutal zusammengeschlagen hatten, so spielen die so genannten »Los Angeles Riots« auch in dem im Krisenjahr 2008 angesiedelten Safe noch eine wichtige Rolle. Eine Rezension von

Ambitionen und Ernüchterung

Roman | Theresa Pleitner: Über den Fluss

»Trauma spielte eine große Rolle. Ich finde es aber wichtig zu betonen, dass die Leute nicht nur traumatisiert ankommen, weil sie in den Herkunftsländern oder auf der Flucht Traumata erfahren haben. Auch die Umstände vor Ort können traumatisierend sein oder zu Retraumatisierungen führen«, erklärt die 32-jährige Theresa Pleitner, die als Psychologin in einer Unterkunft für Geflüchtete arbeitete und aus diesen Erfahrungen ihren ersten Roman geschrieben hat. Eine autofiktionale Bestandsaufnahme, die zwischen idealistischen Ambitionen und kühler Ernüchterung changiert. Von PETER MOHR