Selbstfindung im Anderswo

Comic | Cyril Pedrosa: Portugal

In Portugal, Cyril Pedrosas neuem Comic-Prachtband, nimmt man an der Sinnkrise eines jungen Autors teil und begleitet ihn in die Heimat seiner Großeltern. CHRISTIAN NEUBERT war gerne mit ihm unterwegs.
Pedrosa Portugal
Simon Muchat ist ein französischer Comic-Künstler. Er steckt in einer Krise, die eine Trotz und Unlust verbreitende Schreibblockade weit übersteigt und sich längst zu einer emotionalen Barriere ausgeweitet hat. Zwar hält er sich mit ungeliebten Lehr- und Werbeaufträgen über Wasser, doch aufgrund seiner Lethargie und Unentschlossenheit droht er die Beziehung zu seiner Freundin Yvette auf´s Spiel zu setzen. Die Einladung seiner Cousine, sie zu ihrer Hochzeit in Portugal zu besuchen, ist ihm zunächst auch nicht Anlass genug, sich aus seinem trantütig-trübsinnigen Loch zu hebeln. Dann jedoch kann ihn die routinemäßige Teilnahme an einem Comic-Festival in Portugal, dem Land seiner Großeltern, welches er nur noch vage aus frühen Kindheitserinnerungen kennt, aus seiner frühen Midlife-Crisis lösen.

Dieses Setting umreist den Ausgangspunkt von Portugal, Pedrosas neuem Werk, einem Klotz von einem Comic, der sein viel gerühmtes Drei Schatten als sein bisheriges Opus Magnum ablöst. Nach seinem autobiographischen Episodencomic Auto Bio lässt uns der Frankoportugiese mit dieser Graphic Novel erneut an Versatzstücken seines Lebens und dem seiner Familie teilhaben, aber keine Angst: Simon Muchat ist kein Alter Ego Cyril Pedrosas. Und Portugal ist weit mehr als eine mit autobiographischen Elementen spielende Comic-Inszenierung seiner eigenen Person.

Auf in die Ferne, unterwegs zu sich

Die Spurensuche des Protagonisten, auf die er sich in Portugal begibt, zeichnet etappenweise eine Familienchronik nach, anhand der offenbar wird, dass die Depression, an der er leidet, ihn nicht nur vereinzelt, sondern gleichzeitig in eine Gemeinschaft rückt; sie bringt ihn, obwohl auf sich zurückgeworfen, nicht nur näher zu sich, sondern auch näher in die Reihen seiner Ahnen. Pedrosa erzählt hier die Geschichte einer Selbstfindung, die nur gelingen kann, indem man sich sowohl den Geistern der Vergangenheit als auch dem segensreichen weiten Horizont der eigenen Welt stellt, der stets auch als Fluch auftreten kann. Doch bis es soweit kommen kann, gilt es für Muchat zunächst einmal, sich den Sprachbarrieren als Fremder in einem fremden Land zu stellen.

Portugal überzeugt dabei durch viele Aspekte: durch Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit, die den feinsinnigen Dialogen entspringen, und aus einer Vielschichtigkeit, die keine übermäßige Psychologisierung benötigt und die dem geradlinig-flotten Voranschreiten der Erzählung nicht im Weg steht. Auch emotional zeigt sich der Comic sehr packend und vielgestaltig: Die melancholische Grundstimmung wird oft durch Etappen purer Lebensfreude aufgerissen, und tragischen Momenten wird stets mit Humor und Leichtfüßigkeit begegnet.

Feine Linien, strahlende Farben

Wer Pedrosas frühere Werke kennt, braucht nur einen flüchtigen Blick in den Band zu werfen, um zu wissen, mit wem er es zu tun hat. Eine Überraschung ist jedoch, wie der Franzose mit seinem Stil umzugehen weiß: Die Zeichnungen verbleiben in dem Wälzer weitgehend skizzenhaft, und die wenig filigrane Aquarell-Kolorierung droht die mit feiner Feder ausgeführten Linien fast zu erdrücken. Dieser Eindruck bleibt jedoch nicht lange bestehen – man bemerkt schnell, dass gerade dieser gestalterische Kontrast die Bilder auf unvergleichliche Weise zusammenhält. Aus den Einzelbildern schafft Pedrosa auf diese Weise eine kunstvolle Masse an kleinen Impressionen, die einen überwältigend schönen Gesamteindruck bietet.

Der melancholische Grundtenor des Comics lässt den Vergleich mit Der alltägliche Kampf von Pedrosas Landsmann Manu Larcenet zu, und die sogar aus den gedeckten Farben hervortretende Strahlkraft der Kolorierung erinnert an Fiors 5000 Kilometer in der Sekunde oder Prudhommes Rembetiko, und bestimmt lässt einen das eine oder andere Detail von Portugal jeden Leser an Episoden seiner eigene Geschichte denken. Kein Wunder, ist doch die Erinnerung das gestaltgebende Element der Erzählung. Und aufgrund seiner Bandbreite, Tragweite und Ästhetik ist Portugal definitiv ein Comic, der einem lange in bester Erinnerung bleibt.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Cyril Pedrosa: Portugal (Portugal)
Aus dem Französischen von Annette von Weppen
Berlin: Reprodukt Verlag 2012
264 Seiten, 39,00 Euro

Reinschauen
Blog des Künstlers

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Und der Haas endet nimmermehr

Nächster Artikel

Alles neu macht man selbst

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Du sollst Dir ein Bildnis machen

Comic | Jesse Jacobs: Hieran sollst du ihn erkennen + Max Baitinger: Heimdall Die großen Weltreligionen scheinen sich darüber einig zu sein, dass es keine gute Sache ist, wenn der Mensch sich Abbilder seines Gottes schafft. Dies führe, so heißt es, am Ende zu Bilderverehrung und Götzendienst. Zum Glück hat man sich bei Rotopolpress nicht an dieses Bilderverbot gehalten: mit Heimdall von Max Baitinger und Hieran sollst du ihn erkennen von Jesse Jacobs wurden gleich zwei Bände in das Verlagsprogramm genommen, die tatsächlich verehrungswürdige Bilder enthalten. Die abgebildeten Götter kommen in diesen allerdings nicht gerade gut weg. BORIS KUNZ hat

Verfluchte Liebe: Kino, Film

Comic | Charles Berberian: Cinerama / Blutch: Ein letztes Wort zum Kino Comicschaffende und das Medium Film – im Reprodukt Verlag erschienen jüngst zwei Bände, deren Urheber jeweils ureigene Blicke auf das Kino werfen: Charles Berberians ›Cinerama‹ und Blutchs ›Ein Letztes Wort Zum Kino‹. CHRISTIAN NEUBERT hat sich das Comic gewordene Double Feature vorgenommen.

Grenzenlose Unfreiheit

Comic | Michael Barck (Text) / TeMeL (Zeichnungen): No Borders Für die Freiheit, gegen das System: ›No Borders‹ ist ein dystopischer Comic in bunten Farben aus deutschen Landen. Er findet leichte Worte für ein schwieriges Thema – und lässt CHRISTIAN NEUBERT etwas zwiespältig zurück.

Ein dicker Meilenstein

Comic | Turf (Zeichnungen und Text): Das Narrenschiff Die skurrile Comicreihe ›Das Narrenschiff‹ lief in Deutschland eher unter dem Motto »Geheimtipp«. Dabei hätte sie dank aberwitziger Einfälle und fabelhafter Zeichnungen das Zeug zum Kult gehabt. Vielleicht ändert sich dank der bei Splitter erschienenen Gesamtausgabe daran noch etwas. BORIS KUNZ musste staunen, was Comicfans mit dieser Serie bislang alles entgangen ist.

Genialer Meister oder einsamer Teufel?

Comic | Beethoven: Unsterbliches Genie / Goldjunge

2020 feiern wir den 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven. In diesem Beethoven-Jahr sind nicht nur zahlreiche Sondersendungen zu dem Ausnahmekomponisten über den Äther gegangen, sondern auch einige Graphic Novels erschienen, die sich mit seiner Person befassen. FLORIAN BIRNMEYER stellt ›Beethoven: Unsterbliches Genie‹ (Carlsen) von Peer Meter und Rem Broo und ›Goldjunge: Beethovens Jugendjahre‹ (avant-verlag) von Mikael Ross vor.