Einen Geist sehen wollen

Kurzprosa | Marie Pohl: Geisterreise

Marie Pohls Roman Geisterreise – eine Weltreise ins Ungewisse. Von PETER MOHR


Marie Pohl: Geisterreise
»Ich wollte so gerne einen Geist sehen, einen richtigen Geist, eine Gestalt, die sich mir näherte, die kein Mensch war, die aber wie ein Mensch zu mir sprach.« Diesen Wunsch äußert die Journalistin, Schauspielerin und Sängerin Marie Pohl in ihrem nun erschienenen, eigenwilligen zweiten Reiseband. Vor zehn Jahren hatte sie (nach einer Reise rund um den Globus) mit Maries Reise erfolgreich debütiert. Der Band, in dem sie sich mit den Befindlichkeiten ihrer Altersgenossen auseinander gesetzt hatte, ist sogar ins Chinesische übersetzt worden.

Die 33-jährige Autorin, Tochter des bekannten Dramatikers Klaus Pohl, ist auch für ihr zweites Buch wieder um die Welt gereist, doch diesmal geht es nicht um das Lebensgefühl der jungen Generation, sondern um Geisterbeschwörungen und die abenteuerliche Suche nach archaischen Ritualen und Bräuchen. Die Ich-Erzählerin (dahinter verbirgt sich ziemlich ungeschminkt Marie Pohl selbst) reist der Liebe wegen nach Kuba, doch der von ihr vergötterte Mann steht kurz vor der Hochzeit mit einer anderen Frau.

Sie sucht dann Trost bei Ronal, einem Experten für Yoruba-Götter mit ausgeprägten Vorlieben für Kampfhunde und Joints. Insgesamt acht höchst unterschiedliche Ziele liegen auf der abenteuerlichen Reiseroute. In Mexico erklimmen wir einen Vulkanberg, von dem Zauberkräfte ausgehen, in Kuba wird eine Ziege geschlachtet, deren Blut von einer Santeria-Priesterin mit Reis, Rum, Honig, Kaffee, Kokosmilch und Rosenköpfen vermengt wird, und in New York tritt die junge Frau einer Selbsthilfegruppe für Geisterjäger bei.

Marie Pohl breitet skurrile Anekdoten aus, über die man – je nach Mentalität – schmunzeln oder schaudern kann. In der ghanaischen Hauptstadt Accra wird ein prominenter Geisterbeschwörer in der deutschen Botschaft wegen Visabetrugs verhaftet. Am gleichen Ort macht die Reisende eine seltsame Entdeckung. Sie stößt auf Fußspuren von Zwergen, die sich offensichtlich rückwärts fortbewegen.

Es sind durchweg Reisen ins Ungewisse, die ein wenig wie exotische Selbsterkundungsversuche daherkommen. Es geht um Glaube und Aberglaube, um Sinn und Unsinn, und stets bewegt sich die abenteuerlustige Hauptfigur auf dem extrem schmalen Grat zwischen Tradition und Moderne.

Sprachlich können die acht Reisetexte nicht immer überzeugen. Wenn Marie Pohl ins Poetische abgleitet, wirkt es bisweilen ziemlich hölzern. Anders, wenn sie sich aufs konkrete Beschreiben des Erlebten beschränkt. Dann evoziert sie eine intime Nähe und lässt uns die Atmosphäre der fremden Schauplätze inhalieren. Marie Pohls Texte bewegen sich permanent auf der Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits und lassen den Leser dementsprechend mit ambivalenten Gefühlen zurück.

Da fällt eine absolut weltliche Szene schon etwas aus dem Rahmen und verströmt in all diesen Turbulenzen einen harmonisch-besänftigenden Charme. Die junge Frau lässt sich in Schöneberg von einer 95-jährigen Schamanin entspannende Atemübungen beibringen. Ein wenig Ruhe und Zeit zur inneren Einkehr wünscht man der umtriebig-ruhelosen Protagonistin und den Lesern nach all den kräftezehrenden und nervenaufreibenden Geister-Meetings gleichermaßen.

| PETER MOHR

Titelangaben
Marie Pohl: Geisterreise
Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2012
329 Seiten. 19,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Vom Kern bis zum Kompost, vom Ei bis zum Knochen

Nächster Artikel

Die etwas andere Familie

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Eskalation

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eskalation

Sie rüsten auf, Farb.

Erinnerst du dich daran, wie es anfing?

Gab es das denn je, Farb: einen Anfang?

Es gibt immer eine rote Linie, die überschritten wird.

Rote Linien erkennt oft nur, wer zurückblickt.

Vielleicht daß man den elektrischen Strom zu nutzen begann.

Früher noch, Farb.

Tage, Tage, Jahre

Kurzprosa | Literaturkalender 2022

Vielen dient er als Taktgeber und Orientierungshilfe, Kompass und kompakte Übersicht. Doch in der Verschmelzung mit Literatur erwächst eine tägliche Sinnesfreude und anregende Inspirationsquelle, die uns durch das ganze Jahr tragen kann. Wer sich jetzt schon einen Überblick verschafft, wird 2022 gut versorgt sein. INGEBORG JAISER kann einige bemerkenswerte Literaturkalender empfehlen.

»Saint Genet« – Eine moderne Heiligenlegende?

Menschen | Jean Genet ist vor 100 Jahre geboren Von der Mutter, einer Prostituierten ausgesetzt, der Fürsorge überstellt, Fremdenlegionär, er desertiert, schlägt sich als Dieb, Strichjunge durchs Leben. Die Folge: Besserungsanstalten, Gefängnis. Die drohende lebenslängliche Verbannung wird nach Fürsprache von Cocteau und Sartre aufgehoben. Die Rettung: Schreiben. – Am 19. Dezember vor 100 Jahren ist Jean Genet geboren. Von HUBERT HOLZMANN

»Farb«

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Farb

Du erinnerst dich an Farb?

Vom Toten Meer?

Es heißt, er sei Gramner dort begegnet, sie hätten mit Sergej aus Murmansk Backgammon gespielt.

Wer erzählt so etwas? Möglich wäre es, die zwei sind aus ähnlichem Holz, Farb ist ein schräger Vogel.

Die Wellen schlagen hoch, Anne.

So ist es.

Eine Brache am Stadtrand

Kurzprosa | Judith Hermann: Lettipark Vor 18 Jahren hat sie mit ihren Debüterzählungen Sommerhaus, später gleich einen grandiosen Erfolg gefeiert. Der Band avancierte zum Bestseller – und der Name Judith Hermann galt fortan beinahe als Synonym für das Phänomen »Fräuleinwunder«. Als »Stimme ihrer Generation« wurde die Berlinerin gefeiert und ihren Texten ein »unwiderstehlicher Sog« attestiert. Vor zwei Jahren legte sie ihren mit großer Spannung erwarteten ersten Roman ›Aller Liebe Anfang‹ vor – ein unspektakuläres, etwas langatmiges Buch über eine Frau mittleren Alters, die eine Zwischenbilanz zieht. Nun präsentiert die inzwischen 46-jährige Autorin wieder einen Band mit 17 neuen Erzählungen – ›Lettipark‹