Gefahren beim Abtauchen

Roman | Juli Zeh: Nullzeit

Juli Zehs neuer Roman Nullzeit. Gelesen von PETER MOHR

Juli Zeh: Nullzeit
Vor zehn Jahren hat die Schriftstellerin Juli Zeh für ihren inzwischen in 28 Sprachen übersetzten Debütroman Adler und Engel den Deutschen Bücherpreis erhalten. Ganz nebenbei hat sie einst das beste juristische Staatsexamen ihres Jahrgangs im Freistaat Sachsen abgelegt, sieben weitere Bücher, vier Theaterstücke und drei Hörspiele geschrieben und weitere Literaturpreise erhalten. Dabei schreibt die heute 38-jährige alles andere als Mainstream-Literatur. Juli Zeh pflegt eine Vorliebe für Menschen in Grenzsituationen.

Auf einem gefährlich schmalen Grat bewegen sich auch die vier Hauptfiguren des neuen Romans Nullzeit. Es geht um zwei ungleiche Paare, um komplizierte Beziehungen, gefährliche Ränkespiele, amouröse Avancen und vielversprechend klingende Lebenspläne. Doch damit nicht genug: Juli Zeh arrangiert das emotionale Viereck-Spiel durch einen geschickten Kunstgriff überdies noch als eine Art Roulette der Möglichkeiten. Zwei Figuren führen uns (aus unterschiedlichen Perspektiven) alternierend durch die Handlung.

Den überwiegenden Teil lernen wir aus Sicht des Tauchlehrers Sven kennen, der seit 14 Jahren auf Lanzarote lebt und dort mit seiner Partnerin Antje auf einer Finca alternativen Urlaub mit Rund-um-Betreuung anbietet. Als Gäste empfangen Sven und Antje, die eine stärker pragmatisch-ökonomische denn erotische Beziehung führen, ein mindestens ebenso unkoventionelles Paar – die Schauspielerin Jola von Pahlen und den 12 Jahre älteren Schriftsteller Theo Hast.

Beide wollen sich (aus unterschiedlichen Gründen) von Sven in die Kunst des Tauchens einführen lassen. Jola, die exaltierte, äußerst attraktive Soap-Darstellerin aus steinreichem Elternhaus, träumt von der Hauptrolle in dem geplanten Spielfilm »Mädchen auf dem Meeresgrund«, in dem sie Lotte, die Frau des österreichischen Tauchpioniers Hans Hass verkörpern möchte. Aus der nicht ungefährlichen Welt des Tauchens stammt auch der Romantitel. Die »Nullzeit« ist die errechnete Zeit, die bei einem Tauchgang bleibt, um ohne gesundheitliche Schäden wieder aufzutauchen.

Zwischen Sven und Jola knistert es irgendwann, was sich allerdings in den wechselnden Erzählperspektiven höchst unterschiedlich liest. Dadurch scheinen Parallelrealitäten zu entstehen. Der Leser fühlt sich hin- und hergerissen. Fakt ist allerdings: Sven, der ausgebildete Jurist, der einst das »Krisengebiet« Deutschland verließ (»Ich hasste es, wenn Menschen einander beurteilen.«), gerät gefährlich zwischen die Fronten. Bei einem Tauchgang funktioniert Theos Sauerstoffversorgung plötzlich nicht mehr, weil Jola offensichtlich das Gerät manipuliert hat, später gibt es einen Zwischenfall auf den Klippen.

Jola und Theo, den sie als »alten Mann« verspottet, geraten in eine handgreifliche Auseinandersetzung. Wer will wem nach dem Leben trachten? Ein seltsames Paar, das sich in seinem verspleenten Künstlerhabitus gegenseitig zu übertreffen trachtet. Eine seltsame Beziehung, von geradezu neurotischer Hassliebe geprägt und durch übermäßigen Alkoholkonsum oft exzessiv ausgelebt.

Autorin Juli Zeh hat ein feines Gespür für bissige und verletzende, teils zynische Dialoge des ungleichen Paares, das sich mit gegenseitigen Vorwürfen bombardiert: »Die Welt wird nicht schöner, wenn du deine Poesie drüber kippst«, klagt Jola. Und als sich Theo abfällig über ihre Seifenoper-Rollen äußert, schießt die divenhafte, unberechenbare Schauspielerin zurück: »Meine peinlichen Sätze zahlen unsere Miete.« Hier geht es um mehr als nur einen flüchtigen Urlaubs-Seitensprung. Zwischen Jola und Theo ist ein gnadenloser Kampf auf Leben und Tod ausgebrochen. Sven ist der Leidtragende, der emotionale Blitzleiter für beide.

Juli Zeh verteilt auch noch gezielte Seitenhiebe auf den Literaturzirkus, auf die universitäre Prüfungspraxis, die seichte Fernsehunterhaltung und das exaltierte Party-Gebaren bei den Upper-Tens. In Nullzeit stehen Lebenslügen und verletzte Gefühle im Vordergrund, es wird händeringend um Anerkennung gebuhlt, aber zurück bleiben nur Verlierer und geplatzte Lebensentwürfe. Für das Quartett im mittleren Alter scheint es Zeit zu sein, neue Weichenstellung für die eigene Vita vorzunehmen.

Für Sven ist das Kapitel Lanzarote beendet, er verliert seine treue Gefährtin Antje, die ihn kommentarlos verlassen hat, und Jola bekommt die angestrebte Spielfilmrolle nicht. Sie alle scheinen die Gefahren der Nullzeit unterschätzt zu haben.

| PETER MOHR

Titelangaben
Juli Zeh: Nullzeit
Frankfurt/Main: Schöffling Verlag 2012
256 Seiten. 19,95 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Let’s go Güzel!

Nächster Artikel

Und ewig lockt das Weib

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wyatt und die Raubkunst

Roman | Garry Disher: Hitze Wyatts achter Auftritt führt ihn an die australische Goldküste im Osten des Landes. In dem kleinen Urlauberörtchen Noosa, nördlich von Brisbane, versucht Garry Dishers krimineller Held, sich bzw. seine Auftraggeberin in den Besitz eines Gemäldes aus dem 17. Jahrhundert zu bringen. Die Nazis haben das Bild einst für das von Hitler in Linz geplante Museum einer jüdischen Industriellenfamilie abgegaunert. Nun will Hannah Sten, Nachkommin der einstigen Besitzer, das Bauern bei der Feldarbeit zeigende Kunstwerk zurückhaben. Von DIETMAR JACOBSEN

Der vierte Streich des Rentnerclubs

Roman | Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt

Sie sind gerade auf Entzug, denn ein ganzes Jahr lang haben sie ohne Mord leben müssen. Da geschieht es endlich wieder: Ein Antiquitätenhändler musste ins Gras beißen. Mit fast 80 Lebensjahren trotzdem kein würdiger Abschluss für Kuldesh Sharma. Aber ein guter Grund, um den Donnerstagsmordclub zum vierten Mal in ein gefährliches Abenteuer zu stürzen. Und natürlich sind sie alle vier – Joyce, die Ex-Spionin, Elisabeth, die so gern Schriftstellerin wäre, der »Rote Ron« und Psychiater Ibrahim – wieder dabei. Denn ohne das Quartett aus der Seniorensiedlung Coopers Chase wäre die Südostküste des Vereinigten Königreichs ein kriminelles Sodom und Gomorrha. Von DIETMAR JACOBSEN

Last in Proviant verwandeln

Roman | Ulla Hahn: Wir werden erwartet Es ist vollendet. Die inzwischen 72-jährige Schriftstellerin Ulla Hahn hat ihren großen, 2500-seitigen autobiografischen Zyklus mit dem nun vorliegenden, opulenten Roman ›Wir werden erwartet‹ abgeschlossen und ihren beschwerlichen Weg von der Nachkriegskindheit in der rheinischen Kleinstadt bis hin in die hochpolitischen 1970er Jahre nachgezeichnet, in denen die Wurzeln ihrer schriftstellerischen Laufbahn liegen. Von PETER MOHR

Die Häutungen des Blechtrommlers

Menschen | Zum Tod des Nobelpreisträgers Günter Grass Günter Grass war nicht nur einer der bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsschriftsteller. Er war auch über mehr als sechs Jahrzehnte künstlerischer Tätigkeit stets ein streitbarer und umstrittener Zeitgenosse. Von PETER MOHR

Erhellende Irritation

Roman | Dorothee Elmiger: Schlafgänger »Es ist nicht so, dass ich mich hinsetze und sage: So, jetzt schreibe ich etwas extrem Kompliziertes. Diese Form ergab sich für mich zwingend aus dem Material“, hatte die 29-jährige Schweizer Schriftstellerin Dorothee Elmiger kürzlich über ihr neuestes Werk erklärt. Nun ist ihr zweiter Roman Schlafgänger erschienen. Von PETER MOHR