/

Den Anstich lassen wir uns nicht vermiesen

Film: Im TV: Die Armenambulanz (ARD), 5. Oktober, 15:30 Uhr

Schland. Wir sind Papst. Champions League sind wir auch. Klar. Aber was ist das für ein Land, in dem wir leben, mal abseits der lärmenden Partys, abseits unserer lachenden Anästhesisten à la Oliver Welke oder, haha, Rainald Grebe. »Wenn eine Gesellschaft Banken rettet und keine Menschen mehr, dann läuft irgendetwas falsch«, sagt Gerhart Trabert, Professor für Sozialmedizin; er leitet in Mainz eine Ambulanz für arme Menschen. Von WOLF SENFF

Exclusiv im Ersten: Die Armen-Ambulanz
Diese TV-Reportage dauert bloß eine halbe Stunde. Sie hätte einen besseren Sendeplatz verdient als den Samstagnachmittag. Sie treibt uns die Tränen in die Augen über den Zustand eines Landes, das sich so gern, so oft selbst feiert. Gerhart Trabert, Allgemeinmediziner, unterhält eine Armenambulanz. Der Andrang ist groß, es gibt sechs Behandlungszimmer. »Hier hat man den Eindruck«, erfahren wir von einer Assistentin, »dass man etwas Sinnvolles macht, und man kriegt auch etwas zurück.« Wer hier arbeitet, arbeitet ehrenamtlich. Nein, keine Paaahdie. Der Arzt sucht seine Patienten auch in der Tiefgarage auf.

Es waren keine Sensationen, die diese Menschen aus ihrem geordneten Alltag zogen, sondern irgendwie »bloß« Normalitäten wie eine Krankheit, eine Scheidung, was Alkohol. Die Reportage folgt mehreren Patienten und ihrer Krankengeschichte. Trabert fährt zur Arztsprechstunde in ein Obdachlosenheim, er vermittelt Krankenhausplätze. In Mia-san-mia-Land sind hundertvierzigtausend Menschen trotz Versicherungspflicht nicht krankenversichert, die Dunkelziffer liegt laut Trabert bei etwa einer halben Million.

Tief sind wir gesunken »Ich habe immer die Vision gehabt, eine Anlaufstelle einzurichten für arme Menschen, wo nicht gefragt wird: Bist du versichert? Wo bist du versichert? usw.« Man darf sich sehr wundern über ein Gesundheitssystem, das genau diejenigen, die gesundheitliche Versorgung bitter nötig haben, durchs Raster fallen lässt. »Jetzt kann man nicht abwarten, bis irgendein Versicherungsstatus geklärt ist, sondern der Mann braucht jetzt Hilfe.«

Oh Mann. Was sagt man zu diesem Film? So tief sind wir gesunken? Das vor dem Wahltag zu senden, diese Reportage vom schwarzgelben Elend, das wär‘ denn doch peinlich gewesen für Merkelland. Auch das Oktoberfest muss angestochen sein, bevor diese Spaßbremse gesendet wird. Bayern will feiern, der nüchterne Blick wird abgelegt, die Welt schwankt zwischen Rosarot und Blau.

Sicher, wir sind erleichtert, dass es in vielen Städten Tafeln gibt, sie sind längst unentbehrlich geworden. Aber irgendwie, erinnern wir uns, war es – Wohlstand! Lebensqualität! – neulich noch eine vorrangige Aufgabe des Staates, die Gesundheitsversorgung aller Bürger zu gewährleisten, ganz zu schweigen von Arbeitsplätzen, die den Lebensstandard sicherten. Seit wann breitet sich eigentlich Armut aus in diesem Land, und, erm, erm, macht sich jemand Gedanken darüber, wie lange das so weitergehen soll? Danke für diesen Film (Autorin: Katrin Wegner; Foto: ARD)

| WOLF SENFF

Titelangaben
Die Armenambulanz (ARD)
Autorin: Katrin Wegner
Sa., 5. 10., ARD, 15:30 Uhr

1 Comment

  1. Ich muß….jetzt nach 5 Jahren einen kurzen Kommentar schreiben ohne ins Detail zu gehen. Heute…kurz vor 2019 habe ich immer noch keine richtige Krankenversicherung. Bin mit 63 Jahren im Notlagentarif und werde es auch ewig bleiben. Auch eine Scheidung kann alles in deinem Leben auf den Kopf stellen. Ich bin froh das ich damals mit Katrin Wegner an diesem Film mit meinem Problem teilhaben konnte. Und ich ziehe den Hut vor Herrn Trabert. Ein Mensch der nur Gutes tut.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Raus aus dem Club

Nächster Artikel

Immer für Überraschungen gut

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Dem Hai zum Fraß vorgeworfen …

Film | Im Kino: The Meg Als ein Forschungs-U-Boot angegriffen wird, ist klar: In den Tiefen des Pazifischen Ozeans lauert etwas Großes. Die Zeit für die Crew wird knapp. Manövrierunfähig liegt ihr Hightech – Wasserfahrzeug am Meeresgrund. Ein Fall für einen Tauch- und Bergungsexperten! Doch was dort in der Tiefe passiert, bleibt in der Tiefe! Oder? ANNA NOAH ist gespannt, wie sich die Menschheit diesmal vor der Verderbnis rettet.

Ein Dokument des Exils

Film | Auf DVD: Shadows in Paradise. Hitler’s Exiles in Hollywood Es gibt eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der verlautbarten Empfindlichkeit, mit der man in Deutschland – zuletzt im Zusammenhang mit dem skandalisierten »Gedicht« von Günter Grass – auf Kritik an Israel reagiert, und der historischen Tatsache, dass man nach 1945 in Deutschland ebenso wenig wie in Österreich daran interessiert war oder gar dazu beigetragen hätte, dass die von den Nationalsozialisten ins Exil gejagten Juden, die den Holocaust überlebt hatten, in ihre Heimat zurückkehren. Man wollte sie, um es unverblümt zu sagen, hier nicht haben. Von THOMAS ROTHSCHILD

Gegen die Obrigkeit!

Kulturbuch | Thomas Klein: Geschichte – Mythos – Identität. Zur globalen Zirkulation des Western-Genres Oh, gäbe es eine Verschnarchtlandrangliste, wir nähmen Pole Position ein. Genau, ich rede vom Wir-sind-Papst-Land, vom Wir-sind-Weltmeister-Land. Das sind unsere Erste-Sahne-Parolen, sehr hilfreich, auf dass die Ohren auf Durchzug gestellt bleiben. Denn nein, Edward-Snowden-Land, das sind wir lieber nicht. Worum geht’s? Von WOLF SENFF

Mariss Jansons besiegt Stefan Herheim im Duell

Film | DVD: Tschaikowski – Eugen Onegin Tschaikowskis Eugen Onegin gehört zum festen Repertoire der Opernhäuser. In den vergangenen Jahren konnten zwei so unterschiedliche Inszenierungen wie die von Achim Freyer in Berlin und von Andrea Breth in Salzburg die anhaltende Wirkung dieses Bühnenwerks bestätigen. In Amsterdam hat der deutlich jüngere Norweger Stefan Herheim sich seiner angenommen. Herheim ist für seine enigmatischen Inszenierungen bekannt und nicht unumstritten. Er neigt dazu, sich mehr zu denken, als er szenisch zu vermitteln mag. Ohne Erläuterungen ist das Publikum bei ihm oft ratlos. Von THOMAS ROTHSCHILD

Vierundachtzig plus vier

Film | Im TV: ›TATORT‹ Schwerelos (WDR), 3. Mai   Wie machen sie das, sofort ist man drin und dabei handelt es sich doch lediglich um die üblichen routinemäßigen Anrufe, das Klingelgeräusch langweilt sonst nur, wie kriegen sie das gebacken. Ach und die Suche nach dem Fallschirm in der stillgelegten Grubenanlage, der Blick aus dieser Höhe macht schwindeln, so liebevoll sind sie um uns bemüht. Von WOLF SENFF