Film | Im TV: Kalter Engel (MDR), 4. November
…kommt er uns auf den Bildschirm, und das ist ein denkbar guter Einstieg für Erfurt. Eine mitreißende Eröffnungsszene, dramatisch mit Musik unterlegt. Klar, dass diese Verfolgungsjagd erfolgreich endet. Von WOLF SENFF
Sehen wir einmal darüber hinweg, dass ausgerechnet der Übeltäter einen Laufstil hat, dass man vor Neid erblassen möchte, inklusive diverser Salti, während Kommissar Funke (Friedrich Mücke) recht unbeholfen agiert, haha, wie breitbeinig er läuft, das ist aber unschön, Herr Kommissar, und die Verfolgung endet unter schnöder Zuhilfenahme eines Münchner Oberklassefahrzeugs. Das wird schon werden, und nein, nein, erwarten Sie bloß keinen Action-TATORT, keinerlei Ähnlichkeit mit dem bei unseren kreischenden ADHS-Nachkömmlingen so heiß umschwärmten Keinohrhasen-Hauptdarsteller aus Hamburg.
Ein individuell gezeichnetes Ermittlerteam
»Wenn zu viele Stresshormone ausgeschüttet werden, kann das zu einer Verminderung der Blutzirkulation führen und zu einem Schock. Das ist nicht zu unterschätzen.« Man merkt, die zarte Praktikantin Johanna Grewel (Alina Levshin) spricht schon recht flüssig, aber sie akklimatisiert sich noch. Auch eine Getränkedose mag sie nicht annehmen: »Nein, danke. Ich stehe nicht so auf Stoffwechselbeschleuniger.«
Alle Fasern dieses TATORTs tränkt wie schon in der Eröffnungsszene ein erfreulich subtiler Humor, etwa als eine eskalierende Musikpassage durch einen Nieser, »Heuschnupfen«, ihren unerwarteten Schlussakkord findet, oder in der Art, wie eine höhepunktlos gebliebene Affaire dennoch durch eine heftige Einzelaktion der beteiligten Dame (Karoline Schuch, die uns, so geht’s, als Tochter von Freddy Schenk/Köln bekannt ist) sinnvoll abgerundet wird. Ist für die Aufklärung unerheblich, aber kommt prächtig.
Das ist eine schöne Art, einen TATORT zu drehen, und dass dieser feine Witz unaufdringlich und selbstverständlich daherkommt, darf man dem Erfurter TATORT hoch anrechnen, zumal wir in diesem Land unsere Schwierigkeiten mit Humor und Ironie haben – man lese nur mal die bemühten Begriffserklärungen bei Wikipedia nach. Die eine, Humor, verstrickt sich in Widersprüche, die andere, Ironie, müht sich um wissenschaftliche Präzision, findet aber erst unter dem Untertitel Selbstironie zu der Aussage, dass diese »eine spielerische, relativierende oder sogar kritische Haltung« einnehmen kann; das sollte auch für Ironie allgemein gültig sein.
Eine geschliffene Premiere
Nun zu Kalter Engel. Drei Frauen wurden misshandelt und ermordet, für die ersten beiden hat man den Mörder – Godehard Giese als Roman Darschner – gefasst und sucht nun den Mörder der dritten. Die Spur führt ins universitäre Milieu, es geht um einen Escortservice, einen erpressten Professor. Prostitution im Akademikermilieu, hm, das kommt uns bekannt vor. Der Zuschauer erfährt viel darüber, wie sich die nachwachsende Generation in eine Hochleistungsgesellschaft hineinsortieren muss und wie sehr sie dabei auf sich selbst gestellt bleibt. Wenn die Heranwachsenden dringend auf unsere Hilfe angewiesen sind, lassen wir sie im Stich.
Das Tatmotiv ist nicht eben originell, doch es fügt sich recht elegant in einen TATORT, der auf Yellow-press-Effekte, Hype, Großfeuer, wildes Geballer und ähnliche dramatische Eskapaden verzichtet. Kalter Engel ist eher niedrig gehängt, unaufgeregt und addiert sich zu einem überzeugend ausbalancierten Krimi (Buch und Regie: Thomas Bohn). Darin ist er dem Magdeburger Polizeiruf nicht unähnlich, der vor wenigen Wochen eine gleichermaßen geschliffene Premiere hinlegte (Der verlorene Sohn, 13. Oktober). Der MDR hat die Messlatte mit seinen beiden neuen, sagt man so, Produktionslinien auf hohem Niveau justiert.
Von den Jungs und von den Mädels
Mal zu den Themen. Denn TATORT hat’s in diesem Jahr mit den Jungs und den Mädels. Wir sehen jugendliche Gewalttäter (Wer das Schweigen bricht, HR, 14. April), eine Woche später Kindesentführung (Trautes Heim, WDR, 21. April), eine Woche später noch einmal jugendliche Gewalttäter (Feuerteufel, NDR, 28. April) gesehen, dann zweimal Kindsmord (Er wird töten, RB, 7. Juni, und Die Wahrheit stirbt zuerst, 16. Juni), Kindesentführung (Geburtstagskind, SRF, nach der Sommerpause am 18. August), wieder jugendliche Gewalttäter (Gegen den Kopf, RBB, 8. September), nochmal jugendliche Gewalttäter (Angezählt, ORF, 15. September), anrührendes Kindergartenambiente (Kinderparadies, Polizeiruf, BR, 29. September), rechtsradikale jugendliche Gewalttäter (Der verlorene Sohn, Polizeiruf, MDR, 14. Oktober).
Irgendwie hätte man gern auch mal wieder bissel mehr »echte« Kriminalität, also vielleicht Korruption, Rachsucht, finanzielle Machenschaften, politische Intrigen. Hatten wir lange nicht, oder? Weshalb eigentlich?
Im feinen Tuch und selbstgefällig
Wir Erwachsene sind hundsmiserable Vorbilder, liefern also mehr als genug Material für Schurken in einem deftigen TATORT. Wir haben uns eine gnadenlose Leistungsgesellschaft geschaffen: Drogen, Doping. Wir sind habsüchtig und geldgierig: Banken- und Finanz»krise«. Wir beuten die Natur aus: Umweltzerstörung. Wir treiben Schindluder mit unserer Gesundheit: Pharma-Industrie. Wir sind spielsüchtig: organisierte Wettkriminalität, usw. usf. Wären mal reichlich Themen für Mord und Totschlag in TATORT/Polizeiruf. Seit neuestem gar Spionage à la »beste Freunde«. Traut sich da niemand ran bei unseren hoch ausgezeichneten Regisseuren und unseren so fleißig schreibenden Drehbuchautoren?
Nein, ein TATORT, wir wissen das, macht die Welt nicht besser. Wenigstens aber gab’s mal TATORT-Filme, die politische Themen aufgriffen und sich eins pfiffen auf die tränentreibende Yellow-press-Attitude. Letztes Beispiel: Unvergessen (ORF, 20. Mai 13), der sich die Machenschaften der Pharma-Industrie zum Thema nahm – und ORF ist österreichischer Rundfunk. Gut, gut, wir erwarten keinen Sozialkunde-Unterricht im TATORT. Doch zurzeit hat man den Eindruck, die hiesigen TATORT/Polizeiruf dümpeln in flachen Gewässern, phlegmatisch wie Hanns von Meuffels (BR, Polizeiruf), im feinen Tuch und selbstgefällig.
| WOLF SENFF
Titelangaben
TATORT: Kalter Engel (MDR)
Regie: Thomas Bohn
Ermittler: Friedrich Mücke, Benjamin Kramme, Alina Levshin
So., 3. 11., ARD, 20:15 Uhr
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