Erzählen im freien Fall

Kurzprosa | Alice Munro: Himmel und Hölle

Die kanadische Nobelpreisträgerin Alice Munro schreibt ganz gewiss keine Frauenliteratur, ihre Kurzgeschichten enttarnen, variieren das Spiel zwischenmenschlicher Beziehungen, überzeugen durch ihre Virtuosität. HUBERT HOLZMANN hat den neu aufgelegten Band mit neun Kurzgeschichten Himmel und Hölle mit Bewunderung gelesen.rAm 10. Dezember 2013 wird der 82-jährigen Kanadierin Alice Munro als erst 13. Frau der Nobelpreis für Literatur von der Schwedischen Akademie verliehen. TITEL-Kulturmagazin gratuliert! Auch der sonst so zögerliche Kritiker Denis Scheck spricht in Druckfrisch von einer »sensationellen Entscheidung für die tollste kanadische Autorin und für die Form der Erzählung«. Alice Munro selbst wird aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Preisverleihung nach Stockholm fahren können.

Doch wer ist Alice Munro. Vielen männlichen Lesern mag es da wie Hellmuth Karasek, der Alice Munro nach der Preisverkündung unter den Büchern seiner Frau gefunden hat, ergangen sein. Alice Munro also als Autorin für das weibliche Geschlecht? Wohl kaum. Doch die typische Männerperspektive – unser TITEL-Rezensent schließt sich da mit ein – richtete sich doch immer auf scheinbar Gewichtigeres. Und so werden wir von ihren short stories eines Besseren belehrt. Himmel und Hölle, 2001 erstmals im New Yorker Verlag A. Knopf erschienen, schildert in bestechender Weise die bedrückend triste Realität der kanadischen Provinz.

Variationen der Wirklichkeit

Alice Munros erster Text in Himmel und Hölle bezaubert mit dem lakonischen Titel »Hasst er mich, mag er mich, liebt er mich, Hochzeit«. Er gibt eine Linie vor, setzt Erwartungen und hält dennoch so gar nicht, was er verspricht. Die Geschichte handelt von einer Frau, die ihr Leben als Haushälterin eines Arztes aufgeben und in ein kleines Nest im kanadischen Nowhere umziehen will. Dazu holt sie zunächst am Bahnhof Erkundigungen ein, wie sie den Umzug mit ihren Möbeln gestaltet. Bis dahin läuft alles ganz stringent. Allerdings gibt es winzige Andeutungen bereits ganz zu Beginn, die das scheinbar Harmlose und Alltägliche untergraben.

Alice Munro beginnt ihre short story distanziert, ganz aus der Rückschau: »Vor Jahren, als die Züge noch auf vielen Nebenstrecken verkehrten…«. Ein Bezug zum Jetzt wird vermieden. Auch die Physiognomie der Frau hat etwas Spezielles, ein Merkmal, das die Norm verletzt: »Ihre Zähne drängten sich in ihrem Mund vor, als machten sie sich auf einen Streit gefasst.« Hier agiert die Hauptperson nicht mehr selbst, ihr Unterbewusste wird deutlich, es verselbstständigt sich. Alice Munro erzählt nicht von Upper Class, von modernen, selbstständigen Frauen, die mit den Männern spielen, Sexappeal gezielt einsetzen, Erfolg haben. Munros Frauen werden durch Schicksal, Zufall oder Umwelt getrieben.

Immer wieder auch der Blick zurück auf das gelebte Leben. Etwa wie sich der Kontakt zum späteren Ehemann anbahnt. Dass Briefe hin und her geschrieben werden. Vertrautheit entsteht. Bis sich das Blatt wendet. Aber nicht wie in einer klassischen Novelle. Es gibt keinen tragischen Einschnitt, keinen Schicksalsschlag, der das Leben ändert. Es passiert subtiler, auf einer zweiten Ebene, im Hintergrund. Ansonsten verläuft die Geschichte so, wie das Leben so spielt. Nichts Besonderes. Keine Revolution.

Auch in den weiteren Erzählungen, beispielweise »Eine schwimmende Brücke«, »Nesseln« oder »Was in Erinnerung bleibt« stehen Frauen im Mittelpunkt. Und deren Leben. Die Zeit wird zurückgedreht. Episoden aus der Kindheit, Rückschau als alter Mensch. Manchmal erzählt Alice Munro von glücklichen Momenten ihrer Frauen, vom Alleinsein (auch oder gerade in der Ehe), von Freiheit, von Geheimnissen und Begegnungen. Auch von Begegnungen mit anderen Männern. Diese Momente enthalten nichts Kitschiges, werden ohne Klischees erzählt. Wieder nur Andeutungen und Schweigen. »Er drehte sie um, und sie gingen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren.«

Der andere, Eindringling, der Liebhaber wird ausgeblendet. »Nach Einbruch der Dunkelheit wurde sie wieder zurückgefahren, durch den Park und über die Brücke und durch West Vancouver… Sie traf beinahe im letzten Moment an der Horseshoe Bay ein und ging auf die Fähre.« In diesen zwei Sätzen am Ende eines Rendezvous noch einmal das Konzentrat. Vom Liebhaber Asher ist nichts mehr zu lesen. Die Passivkonstruktion meidet das Agens. Gleichzeitig der Rollenwechsel von der passiv leidenden Geliebten zur Frau, die die Initiative ergreift und wieder selbst handelt, zurückkehrt zum Ehemann.

Diese Nuancen und Details verleihen diesen short stories von Alice Munro eine besondere Kraft. Das Leben geht weiter. Die Einschnitte bewirken keine Vernichtung, es kommt zu keiner Tragödie. Immer bleibt die Wendung verborgen, Munro schildert keine direkten Abstürze. Ihre Figuren werden allenfalls erschüttert. Dabei nicht aus der Spur geworfen. Munro erzählt von Geheimnissen, die lange gehütet, verdrängt wurden. Im Grunde geht im eigentlichen Sinne das Leben dadurch an den Hauptpersonen vorbei. Das Danach nur als verblassende Erinnerung. Das persönliche ist ausgelöscht. Großartig. Preiswürdig.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben:
Alice Munro: Himmel und Hölle
Aus dem Englischen von Heidi Zerning
Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2013
381 Seiten. 9,95 Euro

Reinschauen
Leseprobe und Filmtrailer zum Buch mit Alice Munro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Unverhofftes Wunder

Nächster Artikel

Ein Superheld im Super-Wirr-Warr

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Koordinaten einer Kindheit

Kurzprosa | Paul Auster: Bericht aus dem Inneren Als erfolgreicher Schriftsteller, Übersetzer, Essayist und Regisseur blickt Paul Auster zurück auf seine frühen Jahre. Wann hat er sich erstmals als eigenständiger Mensch gefühlt? Als Amerikaner? Als werdender Autor? Sein Bericht aus dem Inneren legt offen, wie aus einem fantasievollen, bilderhungrigen kleinen Jungen ein Mann werden konnte, der täglich mehrere Stunden an einem Schreibtisch zubringt, »mit nichts anderem im Sinne, als das Innere seines Schädels zu erforschen«. Von INGEBORG JAISER

Fragen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Fragen

Der Mensch sei Publikum, sagte Farb, er sitze in einem Kino.
Annika mußte lachen. Wie erfrischend, erklärte sie, daß Farb seinen Humor nicht verloren habe.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm die Schale mit Schlagsahne, eine zierliche, an den Rändern durchbrochene Schale mit Rosenmotiv, sie stammte aus einer Haushaltsauflösung, er hatte sie bei einem Trödler erworben.

Farb nahm sich einen Löffel Sahne und strich sie sorgfältig glatt.
Das sei jedoch nicht ganz richtig, korrigierte er sich, denn er sitze nicht trocken und behaglich im Kinogestühl, sondern finde sich nolens volens in einem dramatischen Geschehen.

Landt in Sicht!

Kurzprosa | Jürgen Landt: Letzter Stock im Feuer In gewohnter Art und Weise: gerade heraus, nackt und ungeschminkt wie die Wirklichkeit bewältigt Jürgen Landt in seinem neuen Buch Letzter Stock im Feuer den Irrsinn des Alltags, des menschlichen Lebens und Erlebens. Der Zeitbogen des Erzählten spannt sich dabei über die letzten dreißig, vierzig Jahre und beginnt mitten in der DDR. Von RÜDIGER SASS

Sprechender Affe in der Schwefelquelle

Kurzprosa | Haruki Murakami: Erste Person Singular

Seit vielen Jahren wird der inzwischen 72-jährige japanische Erfolgsautor Haruki Murakami als heißer Nobelpreisaspirant gehandelt. Im letzten Herbst war sein opulentes Erzählepos Die Chroniken des Aufziehvogels in einer neuen Übersetzung erschienen. Hierzulande erfreut er sich seit dem Sommer 2000 enorm großer Popularität. Damals war es im »Literarischen Quartett« des ZDF über Murakamis Roman Gefährliche Geliebte zum öffentlichen Zerwürfnis zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler gekommen. Fortan waren die in deutscher Übersetzung erschienenen (und neu aufgelegten) Werke von Murakami echte Verkaufsschlager: Wilde Schafsjagd, Hard-Boiled Wonderland, Tanz mit dem Schafsmann und 1Q84. Von PETER MOHR

Kleine Prosa ganz groß

Kurzprosa | Marie T. Martin: Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? Marie T. Martins Einblicke in eine durchwühlte Handtasche – der neue Band mit Kurzprosa ›Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?‹ ist im ›Leipziger poetenladen‹ erschienen. Von STEFAN HEUER