Es war einmal …

Kinderbuch | Rotfischchen / Das Mädchen in Rot

Rotkäppchen gehört seit seinen beiden ersten literarischen Versionen von Charles Perrault aus dem Jahr 1695 und den Brüdern Grimm von 1812 zu den am häufigsten bearbeiteten, interpretierten und parodierten Märchen. Zwei neue Bilderbücher beweisen, dass sich daran bis heute nichts geändert hat, findet ANDREA WANNER.
Rotfischchen
Éric Battut lässt sein Rotkäppchen als Fisch daherschwimmen. Klein, rundlich – und natürlich rot. Rotfischchen verdankt seinen Namen aber keinem roten Badekäppchen, sondern der Tatsache, dass es aus lauter Schüchternheit immer rot ist. Ganz in der Tradition der Vorlagen stehend, wird auch Rotfischchen mit einem Korb – voller Krabben – von der Mutter zur kranken Großmutter geschickt. Unterwegs trifft es auf … klar, den bösen Hai. Und dessen Pläne sind nicht minder finster als die des Wolfes im Wald. Er begleitet Rotfischen auf dem Unterwasserspaziergang zur Großmutter ein Stück, eilt dann vorweg und lauert bei der Großmutter dann dem arglosen Enkelfisch auf. Und obwohl er alles so macht, wie der Wolf, hat er nicht mal einen Teilerfolg.

Schaurig schön

Battut erzählt seine Version in leuchtenden Grundfarben: Meerblaues Wasser bildet den Hintergrund für die Buchseiten, golden strahlt der Sand des Meeresbodens. Der kleine Fisch ist in seinem Rot überall sofort auszumachen, wie er den von grün flankierten Unterwasserpflanzen Weg zur Oma schwimmt. Drohend schwarz mit spitzen weißen Zähnen ist der Hai dargestellt. Und die Sätze bilden kleine weiße Wellen. Für die Auflösung allerdings hat sich der französische Bilderbuchkünstler, der für seine Geschichten nie viele Worte braucht, eine wirklich originelle Überraschung ausgedacht.

Aaron Frisch und Roberto Innocenti verlegten ihre Rotkäppchenstory in eine moderne Großstadt, geben dem kleinen Mädchen einen Namen, Sophia, und lässt sie mit Mutter und kleiner Schwester in einem heruntergekommenen Mietshaus leben, dessen andere Bewohner man auf einen Blick von außen auf das Haus kennenlernt: Typen, die es im Leben zu nichts gebracht haben; Arbeitslose in Schlafanzughosen; vor dem Fernsehapparat ruhiggestellte Kinder: finstere Einbrecher… Frisch nennt die große Stadt »Wald«, warnt vor den Gefahren, die in ihr lauern, und lässt auch seine Kleine sich auf den Weg zur kranken Großmutter am anderen Ende der Stadt machen, mit rotem Kapuzenmantel, den die Oma genäht hat, und Keksen, Honig und Orangen im Rucksack.

Bedrohlich real

Hier ist es nicht die Einsamkeit, durch die sich Sophia kämpfen muss, sondern ein bedrohlicher Großstadtdschungel mit Verkehr, Ablenkungen, Verbrechen und einer Unübersichtlichkeit, die man keinem Kind zumuten möchte. Eine verlockende Abkürzung führt auch dieses Rotkäppchen direkt in die Fänge des Bösen. Ein „lächelnder Jäger“ mit schwarzem Ledermantel, der sich anbietet, Sophia mit seinem Motorrad zur Großmutter zu bringen. Und auch dieses Rotkäppchen wird schwach und kommt nach dem Übeltäter an dem kleinen Wohnwagen der Großmutter an.

Das Mädchen in Rot

Es gibt eine Rahmenhandlung: Eine Gruppe von 12 Kindern, die sich um eine Großmutterfigur versammelt hat: »Rückt zusammen Kinder, ich will euch eine Geschichte erzählen.« Strickend erzählt sie – wie viel Zeit vergangen sein muss, ist an der Länge des Schals ersichtlich, wenn sie den fassungslosen Kindern berichtet, wie schließlich die bis an die Zähne bewaffnete Polizei bei dem Wohnwagen auftaucht. Ein lakonisches »Zu spät.« lässt alles Märchenhafte verschwinden. Was hier geschehen ist, darf so nicht sein, das Gute muss am Ende über das Böse siegen. Mit entsetzten Blicken und weinend starren die Kinder die Erzählerin an, bis diese sich erweichen lässt: »Wisst ihr noch, wie das mit den Geschichten ist? Geschichten sind magisch. Wer sagt, dass sie nur ein Ende haben können?«

So gönnt die Geschichte auch dem Mädchen in Rot ein zweites, gutes Ende. Aber die Sicherheit ist dem Zweifel gewichen: es muss nicht alles gut ausgehen. Eine neue Ambivalenz hat sich breitgemacht, das Ende der Kindheit mit dem festen Glauben an den Sieg des Guten hat begonnen.

Roberto Inocenti, der 1986 mit seinem Bilderbuch Rosa Weiss, dem wohl ersten Bilderbuch zum Thema Holocaust, bekannt wurde, wagt mutige Bilder in einem drastischen Realismus voller versteckter Symbole und dunkler Bedrohungen. Es ist das Ende einer heilen Welt im Bilderbuch, die es im realen Leben sowieso noch nie gegeben hat.

Und dennoch: »Eine gute Geschichte aber ist magisch.« Und es gehört zur Faszination der Literatur, dass wir uns immer wieder auf diese Magie einlassen.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Éric Battut: Rotfischchen (Le Petit Poisson rouge, 2011)
Aus dem Französischen von Seraina Staub
Zürich: Orell Füssli 2013
32 Seiten, 13,95 Euro
Ab 4 Jahren

Das Mädchen in Rot. Idee und Bilder von Roberto Innocenti, Text von Aaron Frisch (The Girl in Red, 2012)
Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther
Hildesheim: Gerstenberg 2013
32 Seiten, 16,95 Euro
Ab 6 Jahren

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